Prof. Pu empfiehlt: Léon und Louise von Alex Capus
[display_podcast]
Das Erste, was Léon von Louise wahrnahm, war ihr quietschendes Herrenfahrrad und ihre rot-weiß-gepunktete Bluse. Für den Rest ihres Lebens würde er sie lieben – und sie ihn. Damit wäre die Geschichte auserzählt … „und wenn sie nicht gestorben sind“ …
Doch Capus beginnt seinen Roman mit der Trauerfeier für Léon, der seinen Anverwandten damit noch aus dem Sarg heraus ein Schnippchen schlagen wollte. Er, zeitlebens Atheist, bestellt seine Familie aus Anlaß seines Todes in die größte Kirche von Paris, nach Notre-Dame. Da sitzen sie alle, ein kleines verlorenes Häuflein in dieser riesigen Kathedrale. Bis die Tür aufgeht und eine resolute kleine alte Dame mit rotem Schal an den Sarg tritt, Léons Leiche küsst und ihm etwas zum Abschied auf die Brust legt.
„Wer ist das?“
„Gehört die Frau zu uns?“
„Still, man kann euch hören.“
„Gehört die zur Familie?“
„Oder ist das vielleicht …?“
„Glaubst du?“
„Ach woher.“
„Bist du ihr nicht einmal im Treppenhaus …“
„Ja, aber da war es ziemlich dunkel.“
„Hört auf zu gaffen.“
„Wo nur der Pfarrer bleibt?“
„Kennt die jemand?“
„Ist es …“
„…vielleicht …“
„Meinst du?“
„Würdet ihr jetzt bitte still sein?“
Dann beginnt sein Urenkel die Geschichte der achtundsechzig Jahre währenden Liebe von Léon Le Gall und Louise Janvier zu erzählen. Siebzehn ist Léon, als er 1918 den Pappkoffer auf sein Fahrrad packt und tagelang von Cherbourg nach Saint-Luc-sur-Marne fährt, um dort eine Arbeitsstelle als Assistent des Bahnhofvorstehers anzutreten. Das „sensationelle“ Mädchen auf dem Fahrrad bekommt er erst wieder, nach wochenlangem Lauern, im Café zu Gesicht.
Sie ist die „Tippmamsell“ des Bürgermeisters und hat ein sehr vorlautes, starkes, aber auch sehr empathisches Wesen. Vom ersten Moment an ist er ihr verfallen, doch die spröde Louise läßt ihn zappeln. Woher sie stammt, weiß niemand so recht, genau wie Léon ist sie durch das Stellenvermittlungsprogramm des Kriegsministers nach Saint-Luc gekommen. Behutsam nähern sie sich aneinander an, für immer wollen sie zusammenbleiben. Auf dem Rückweg von einem Ausflug ans Meer werden sie durch einen Kampfangriff der Deutschen getrennt, bei dem jeder verletzt in einem anderen Bombenkrater landet …
1928 arbeitet Léon als Chemiker bei der Pariser Polizeipräfektur. Er untersucht die Essensreste, mit denen Menschen vergiftet wurden. Mittlerweile ist er verheiratet und hat einen Sohn, doch es vergeht kein einziger Tag, an dem er nicht an Louise denkt. Der Bürgermeister von Saint-Luc hatte ihm damals vor zehn Jahren mitgeteilt, sie sei ums Leben gekommen. Doch dann glaubt er, sie in der Métro gesehen zu haben und fährt stundenlang hin und her, bis er abgekämpft zu Hause ankommt. Seiner Frau Yvonne bleibt seine Aufgewühltheit nicht verborgen.
„Das haben wir beide immer gewusst, dass so etwas eines Tages geschehen würde, nicht wahr?“ Ihre Stimme war heiter, um ihre Lippen spielte ein Lächeln, und ihre Gestalt wurde umspielt vom Widerschein der Straßenlaterne, die vor dem Haus im Regen stand. „Du wirst das tote Mädchen suchen, du musst Gewissheit haben.“
„Das Mädchen gibt es nicht mehr, Yvonne, so oder so. Es ist viel Zeit vergangen seither.“
„Trotzdem wirst du sie suchen.“
„Nein, das werde ich nicht tun.“
„Irgendwann wirst du sie suchen. Du wirst nicht leben können ohne die Gewissheit.“
„Die Gewissheiten, die ich habe, reichen mir“, erwiderte er. „Weitere Gewissheiten brauche ich nicht. Ich renne nicht anderen Frauen hinterher, das solltest du wissen.“
„Weil du mit mir verheiratet bist?“
„Weil ich dein Mann und du meine Frau bist.“
„Du willst nichts Falsches tun, das ehrt dich, Léon. Trotzdem wird dich die Frage quälen, solange du ihr nicht auf den Grund gegangen bist. Das will ich nicht mit ansehen, und ich will es vor allem mir selbst nicht antun. Du musst das Mädchen suchen.“
Er findet sie, auf seine ganz eigene Weise. Louise arbeitet als Tippmamsell bei der Banque de France.
„Tja“, sagte Louise. „Da haben wir uns ein paar Jahre lang ziemlich nah beieinander die Hintern plattgesessen. Das nennt man Pech.“
Einen sehr glücklichen Tag und eine noch glücklichere Nacht verbringen sie miteinander, dann wirft ihn Louise beherzt aus ihrem Auto.
„In den folgenden elf Jahren acht Monaten dreiundzwanzig Tagen vierzehn Stunden und achtzehn Minuten sahen und hörten Louise und Léon einander nicht wieder, und sie blieben ohne Nachricht voneinander.“
Léon mußte Louise versprechen, zu seiner Frau zurückzukehren und nicht mehr nach ihr zu suchen. Er zeugt mit Yvonne noch ein paar Kinder, sie betrügt ihn mit einem Urlaubsflirt, alles verläuft in einigermaßen ruhigen Bahnen. Erst am 14. Juni 1940, als fast alle Paris fluchtartig verlassen, aus Angst vor den vorrückenden Deutschen, erhält er einen Brief von Louise. Sie wird mit dem Gold der Banque de France auf abenteuerliche Art und Weise auf ein Schiff verfrachtet und nach Afrika gesandt. Sie schreibt ihm sehr innige Briefe, so, als ob sie aus erst aus der sicheren Entfernung tausender Kilometer heraus ihre Sehnsucht offenlegen kann, dabei weiß sie nicht einmal, ob er ihre Post je erhält.
Während der deutschen Besatzung untergräbt Léon die Schikanen der Machthaber auf seine ganz eigene anarchistische, aber auch recht feige Art, während Yvonne sich im Überlebenskampf für die Familie verzehrt. Erst Monate nach Kriegsende kehrt Louise mit dem staatlichen Gold nach Paris zurück. Ihr erster Weg führt sie ins Haus von Léon, zu Yvonne. Die beiden klugen Frauen verstehen es, sich über den noch ahnungslosen Léon hinweg zu arrangieren …
Capus versteht es besser als jeder Beziehungsratgeber mit seinem Roman aufzuzeigen, wie es gehen könnte, respektvoll das eine zu tun ohne das andere zu lassen. Er beschreibt seine Personen lakonisch, ironisch, feinsinnig und versteht sich auf köstliche Dialoge. Er scheint das Mit- und Gegeneinander der Geschlechter und vor allem die Frauen gut studiert zu haben. Sein Roman ist lebensklug, amüsant, leicht wie eine Feder und führt ganz nebenbei durch das 20. Jahrhundert. Bedauerlich, daß er es nicht auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat – bei mir steht er jedenfalls ganz oben auf meiner persönlichen Liste!
Alex Capus
Léon und Louise
Hanser € 19,90
978-3-448-23630-1