Prof. Pu empfiehlt: „Das Ende des Alphabets“ von Charles Scott Richardson
[display_podcast]
Das haben Ambrose Zephyr und ich gemeinsam: Die etwas merkwürdige Liebe zum Alphabet – siehe auch „ABC in 3D“ oder „Britannica & ich“.
„An oder um seinen fünfzigsten Geburtstag herum fiel Ambrose Zephyr bei seinem jährlichen Gesundheitscheck durch. Eine Krankheit unerklärlicher Herkunft und ohne bekannte oder absehbare Behandlungsmöglichkeiten wurde festgestellt. Er würde innerhalb eines Monats daran sterben. Plus/Minus einen Tag. Man legte ihm nahe, in der verbleibenden Zeit gewisse Vorkehrungen zu treffen.
Ambrose Zephyr bewohnte mit seiner Frau ein schmales, mit Büchern vollgestopftes viktorianisches Reihenhaus. Sie führten ein zufriedenes, ruhiges Leben ohne große Extravaganzen.“
Er ist verheiratet mit Zappora Ashkenazi, genannt Zipper.
„Zappora Ashkenazi arbeitete als Literaturredakteurin für die am dritthäufigsten gelesene Modezeitschrift des Landes. Die Herausgeberin hatte die widerstrebende Leserschaft des Magazins sowohl an die neue als auch an die klassische Literatur gewöhnen wollen, und falls diese Literatur auch noch einen Bezug zur Couture hatte, umso besser. Der Job war eine Herausforderung: Austen, Woolf und Parker hatten nie eine Frühjahrskollektion entworfen. Trotzdem: Wer allmonatlich ‚Auf dem Nachtkästchen’ las, tat dies treu und als Erstes.“
Sie hatten sich in einem kleinen Laden in Paris kennengelernt und er liebt sie über alles. Von Beruf Werbegraphiker, zeichnete und verzierte er schon als Kind stundenlang Buchstaben. Und sammelte Reiseprospekte aus der ganzen Welt:
„In seiner schönsten Handschrift schrieb er Briefe an jeden Botschafter oder Regierungsbeauftragten oder Konsul und erklärte, er plane für die allernächste Zukunft eine Reise in ihr Land und ob Sir oder Madam wohl so freundlich sein könnten, ihm so bald als möglich alle verfügbaren Informationen über ihre schönes Land zukommen zu lassen, hochachtungsvoll, Ambrose Zephyr. Er arbeitete Stunden daran, seinem Z den richtigen Schwung zu verpassen.“
Am Morgen nach der erschütternden Diagnose öffnet Ambrose den riesigen Koffer mit der Sammlung seiner Kindheit und beginnt wie besessen, ihre letzte gemeinsame Reise zu planen. Es bleibt nicht viel Zeit, den Kindheitstraum noch rasch zu erfüllen, nur 26 Tage. Zipper wirft ihren Job hin ohne nachzudenken, sie will nur mit ihm sein. Und sie machen sich auf den Weg. Auf eine alphabetische Weltreise, nach der kindlichen, liebevoll-handverzierten Liste des jungen Ambrose.
Sie beginnen in Amsterdam, fahren weiter nach Berlin, Chartres, Deauville. Sie versuchen Normalität, wo keine mehr sein kann. Und Zipper will nur noch an einen Ort, nach Paris. Und sie verwandeln Elba in Eiffelturm. Dann weiter nach Florenz. Sie sind nicht ehrlich zueinander. Beide spielen sich ein großartiges Theater vor. Gizeh, die Flüge nach Haifa fallen aus, Istanbul. Dann hat Zipper genug:
„Es ist Zeit, nach Hause zu fahren, verkündete Zipper, die wußte, dass ihr Mann das von sich aus nie zugeben würde.“
Sie fahren nach Hause und sie schafft es sogar, ihn davon zu überzeugen, sich seinem besten Freund zu offenbaren:
„Wahrscheinlich hatte Ambrose nach genügend Kirs und Whiskys widerstrebend erzählt, was los war. Daraufhin vermutlich langes Schweigen, bedrückte Blicke, Bestellungen noch mal desselben (…)
Verdammt, sagte Freddie wahrscheinlich und wandte sich kurz ab.
Ambrose entschuldigte sich vermutlich.
Die Freunde hatten sich wohl zusammengerissen. Dann dürfte Freddie wie immer etwas Kluges und Intelligentes gesagt haben. Du musst abkürzen. Schluss mit A bis Z. Schmeiß die Liste weg. Die meisten Orte, an die du reist, wirst du sowieso hassen. Denk an Zipper. Hör auf, die Frau herumzuzerren, sonst hasst sie dich noch, weil du womöglich schon bei S, T oder U tot umfällst. War sie es nicht, die gesagt hat, es ist Zeit, nach Hause zu fahren? (…) Keiner der Freunde hatte vermutlich ‚Auf Wiedersehen’ gesagt. Das hatten sie früher auch nie getan.“
Den Rest der alphabetischen Reise erzählt Ambrose, im Kensington Park liegend, seiner Frau in poetischen Bildern voll Phantasie. Sie wird keine Kritiken mehr schreiben, aber vielleicht eine Geschichte …
Ein traumhaft-schönes Buch über die Liebe und den Tod, das Loslassen und das Reisen. Und über das Erzählen. Ein Erstlingswerk des Autors, dem ich viele Nachfolger wünsche.
Charles Scott Richardson
Das Ende des Alphabets
Piper € 16,80
978-3-492-05065-4