Die Filmwissenschaftlerin und Ang Lee-Expertin Dr. Isabell Wohlfarth wirft für SchönerDenken einen ganz persönlichen Blick auf die Werke des taiwanesischen Regisseurs.
[podloveaudio src=“http://schoenerdenken.podspot.de/files/628_taking_woodstock.mp3″ duration=“11:49″ title=“Isabell über Ang Lees TAKING WOODSTOCK“]
Jeder hat schon vom legendären Woodstock-Festival gehört, bei dem im August 1969 eine halbe Million Besucher ein riesiges „Fest der Liebe“ mit legendären Auftritten von Jimi Hendrix und Janis Joplin feierte. „Taking Woodstock“ ist die erste Komödie darüber. Und natürlich erzählt Mister Lee die Geschichte auf seine ganz eigene Weise, nämlich ohne auch nur einmal einen Künstler oder Konzertausschnitt zu zeigen. Auch in der Darstellung der Blumenkinder ist stets ein ironisches Augenzwinkern mit dabei. Trotzdem hat es mich bei diesem Film mit Haut und Haaren gepackt: das Hippie-Fieber.
Nach seinem chinesischen Spionage-Drama „Lust, Caution“ wollte Ang Lee zur Abwechslung etwas Heiteres drehen und entschied sich für die Komödie über das Woodstock-Festival:
„Diesen Film habe ich aus reiner Lust gemacht, aus Liebe zu dieser Zeit und dem Filmemachen. Ich wollte mir etwas Gutes tun.“
„Taking Woodstock“ erzählt von der Entstehung des berühmtesten Festivals der Welt und basiert auf der gleichnamigen Autobiografie von Elliot Tiber – dem Mann, der das Event unerwartet in den kleinen Ort Bethel holte. 2007 hatte Ang Lee den echten Tiber durch Zufall hinter den Kulissen einer Talkshow kennengelernt und merkte sofort, dass hinter dessen Geschichte ein perfekter Filmstoff liegt.
Der Film erschien schließlich im 40. Jubiläumsjahr des Festivals. Für die Figur des Elliot engagierte Ang Lee den Hollywood-Neuling Demetri Martin, der hier seine erste Filmrolle spielte, in den USA aber schon länger ein gefeierter Stand-Up-Comedian ist.
Die Story
Elliot Teichberg (Demetri Martin) träumt eigentlich von einer Karriere als Innenausstatter in New York, kehrt aber in seinen Heimatort Bethel in den Catskill Mountains im Bundesstaat New York zurück, um seinen Eltern, den russisch-jüdischen Einwanderern Sonia (Imelda Staunton) und Jake (Harry Goodman), mit ihrem maroden Motel „El Monaco“ zu helfen. Die beiden Alten führen das Gästehaus eher schlecht als recht und stehen kurz vor der Pleite. Elliot sucht händeringend einen Weg, wie man mehr Übernachtungsgäste anlocken kann.
Aus der Zeitung erfährt er, dass dem groß angekündigten Woodstock Open-Air-Konzert die Genehmigung entzogen wurde und nun ein neuer Veranstaltungsort gesucht wird. Elliot bietet kurzerhand die Wiese hinter dem Motel an. Die Festival-Organisatoren um den charismatischen Stab-Leiter Michael Lang (Jonathan Groff) fallen mit Hubschrauber und Geldbündeln in dem kleinen Ort ein. Zwar erweist sich Elliots Wiese als Sumpf, sie kommen aber mit dem Milchbauern Max Yasgur (Eugene Levy) ins Geschäft. Auf seinen riesigen Kuhweiden soll Woodstock stattfinden.
Bald pilgern hunderttausende junge Menschen in die kleine Gemeinde und versetzen die Einwohner in helle Aufregung. Schnell wird klar, dass der Ansturm logistisch kaum zu bewältigen ist. Erschrocken und doch beeindruckt von dem, was er arglos angestoßen hat, verfällt auch Elliot dem Strudel aus Liebe, Musik und Gemeinschaft und erkennt im Glücksrausch der Massen, was er im Leben wirklich will.
Der Mythos Woodstock – erzählt über viele kleine Geschichten
Wie ein lustiges Provinz-Märchen klingt diese Geschichte im ersten Moment: Ein junger Mann packt die Gelegenheit beim Schopfe, als ein paar gut organisierte Hippies eine Wiese für ein Festival suchen. Am Ende kommen hunderttausende Besucher, eine Legende ist geboren – und Elliots Familie ist reich. Dass sie wirklich so in etwa stattfand, das macht einen Teil des Mythos Woodstock aus – genau wie Jimi Hendrix‘ legendäre Version der Nationalhymne oder die unter Strom stehende Festival-Bühne. Es gibt unzählige Bilder und Zeitdokumente der „drei Tage Liebe und Frieden“ – allen voran den Oscar-prämierten Dokumentarfilm „Woodstock – 3 Days of Peace & Music“ von Michael Waldleigh.
Der neue Clou von „Taking Woodstock“ ist, dass man vom Festival selbst so gut wie gar nichts sieht. Das klingt enttäuschender als es ist. Denn der Geist, die Stimmung, die Atmosphäre wird durch kleine Erzählungen rund um das Fest noch besser vermittelt, als es ein Close-Up auf das Bühnengeschehen könnte. Ang Lee findet nämlich im Gewühl der Hippie-Invasion wieder jene kleinen, persönlichen Momente, die die Geschichte so viel intensiver und nachhaltiger vermitteln. Der Film erfasst das große historische Ereignis über eine bunte Collage individueller Schicksale.
Baustelle Familie: Der hoffnungslos pflichtbewusste Sohn
Die Entstehung des Festivals ist im Grunde nur die Rahmengeschichte: Im Zentrum steht Elliots Reise und die Geschichte seiner Familie. Das Ereignis löst den Knoten im verfahrenen familiären Gefüge und hilft Elliot dabei, sich von seinen Eltern zu emanzipieren. Aufbruch und Veränderung liegen in der Luft, im Großen wie im Kleinen.
Am Anfang hält er als treusorgender Sohn rührend zu den Eltern (ein Motiv, das Ang Lee schon seit seinem ersten Film immer wieder durchspielt) und versucht, sie aus ihrer Misere zu retten, obwohl die beiden das in keiner Weise unterstützen. Im Gegenteil, die Mutter ist ein herrlich geldgieriger, herrischer Gästeschreck, der Vater ein apathischer, gebückter Einsiedler. Man will Elliot zugleich einen Orden verleihen und einen Narren schimpfen, weil er, scheinbar naiv und selbstlos, nicht müde ist, den störrischen Alten zu helfen.
Coming-Out: Elliot wird vom Freiheitsstrudel gepackt
Dass seine Pläne ganz andere sind, er gerne nach San Francisco will, um dort als Innenausstatter zu arbeiten und seine Homosexualität auszuleben, das verbirgt er vor den Eltern. Es brodelt aber mächtig in ihm. Der Geist der Freiheit, Selbstverwirklichung und die Glückssuche, die sich während des Festivals um ihn herum „ausbreiten“, geben ihm aber den nötigen Schub, seinen eigenen Wünschen zu folgen. Es ist wunderbar, zu beobachten, wie er, der zurückhaltende, vernünftige Junge langsam von der Euphorie der Bewegung ergriffen wird, wie er dem Strudel des Hier und Jetzt verfällt, wie er dann seine Beherrschung kurzzeitig aufgibt, entschlossen handelt oder sich dem Moment hingibt: in einem leidenschaftlichen Kuss mit einem Mann oder in einem bewusstseinserweiternden LSD-Drogentrip. Er lässt sich vom Gefühlschaos der anderen mitnehmen und geht in kleinen Schritten seinen Weg, bis er am Ende ganz seinem Herzen folgt und endlich beginnt, seinen Eltern selbstbewusst entgegenzutreten.
Aber auch die Eltern machen eine Entwicklung durch. Der Vater blüht richtig auf, während er nächtelang hinter dem Tresen steht, Bier serviert und mit den Hippies schwadroniert. Und er verteidigt das Motel-Gelände mit Baseball-Schläger und Inbrunst. Aus dem gebrochenen Alten wird ein Mann der Tat. Das Festival rettet ihm das Leben. Erst dann findet er auch den Mut zur Aussprache mit Sohn Elliot. Einer der stärksten Momente des Films. Wieder zimmert Ang Lee die Entwicklung eines Vater-Sohn-Verhältnisses als emotionalen Kern für die Geschichte. Die Mutter dagegen erlebt nur kurze Momente der Einsicht – unter anderem in einem schreiend komischen Regentanz nach dem unfreiwilligen Verzehr von Hasch-Brownies. Sie bleibt letztlich dennoch egoistisch, verbohrt und kühl.
Clash der Konventionen: Peace-Invasion in der Dorfidylle
Man muss sich das für einen Moment vorstellen: In einen konservativen Provinzort, wo vor allem Farmer leben, fallen auf einmal langhaarige, schrille und nicht selten nackte Hippies ein. Kilometerlange Autocorsos schlängeln sich an Kuhwiesen vorbei, überall flanieren knutschende Paare. Natürlich sind die Einheimischen völlig von der Rolle, ihr Weltbild ist in Gefahr – auch wenn sie insgeheim ordentlich Reibach machen mit den ungebetenen Besuchern. Der Schuldige ist schnell gefunden: Elliot wird im heimischen Stamm-Diner nicht mehr bedient. Die rechte Dorfjugend wagt Drohgebärden Richtung Motel. Doch die Invasion der Freiheitsliebenden ist längst nicht mehr zu stoppen. Die Region wird einfach überrollt. Und mit ihr schließlich auch viele Bewohner: der Polizist trägt Blümchen am Helm, die Nonnen machen das Peace-Zeichen und die Dorf-Ladies üben sich im „Namaste“. Was für ein Spaß.
Herrlich übertriebene Hippie-Romantik
Ohne Holzhammer werden in diesem Film die bekannten Elemente der Zeit in der Geschichte platziert. Historische Ereignisse sind clever beiläufig im Hintergrund eingestreut, im Fernsehen läuft ein Bericht über die Mondlandung. Das damals explosive Gesellschaftsthema Vietnam-Krieg wird in der Figur des jungen Veteranen Billy (Emile Hirsch) aufgegriffen, der unter posttraumatischem Stress leidet und sich erst langsam wieder finden muss. Auch der Diskurs über die sexuelle Revolution kommt nicht zu kurz. Elliot lernt den Transvestiten und Ex-Marine Vilma (Liev Schreiber) kennen und lernt von ihm, dass man zu sich stehen muss, egal was die anderen denken.
Leidenschaftlich zelebriert werden die bekannten Bilder der Hippie-Revolutionsromantik. Zu einem verspielten Gitarren-Soundtrack mit wackligen Video-Aufnahmen und in Split-Screens beschwört der Film die Stimmung dieser Zeit herauf. Da ist die nackte Theatergruppe, die ekstatisch auf einer Blumenwiese tanzt, die jungen Leute, die im Schlammbad zueinander finden und schließlich das bunt schillernde, wogende Meer aus glückseligen Musik-Pilgern, die so entspannt und harmonisch wirken und sogar das ramponierte Wiesen-Schlachtfeld am Ende noch als „wunderschön“ bezeichnen.
„Wo kommt ihr her?“, fragt Elliot die beiden relaxten Hippies, die ihn zum LSD-Trip in ihren kunterbunten VW-Bus einladen. „Wir sind von überall“, flöten die beiden mit einem weltumarmenden Lächeln. „Ich bin von hier“, antwortet Elliot daraufhin schlicht und bekommt von ihnen gleich ein zustimmendes Nicken. Oh ja, wir alle sind ganz und gar im Hier – wunderbar. Die esoterischen Deutungsversuche gehören natürlich auch zur Hippie-Zeit und ihren spirituell Suchenden.
„Perspektiven verhindern nur den Zugang zum Universum – das hält immer die Liebe fern“,
sagt Michaels Assistentin Trish (Mamie Gummer) einmal betont weise zu Elliot. Das hat hier auch dramaturgische Funktion, denn sie bringt dessen Situation wunderbar auf den Punkt. Vor allem aber sind diese sinnigen Aussagen ein herrlich ironischer Seitenhieb auf die übertriebene Blumenkinder-Symbolik. Als Zuschauer kann man genüsslich über diese überspitzten Episoden schmunzeln. Man ertappt sich aber auch beim Schwelgen und Mitwippen – das Hippie-Gefühl packt einen trotz allem. Beautiful!
„Das Vermächtnis von Woodstock wird ewig währen“
Mit viel Humor erzählt Mister Lee hier im Lichtkegel eines historisch bedeutenden Ereignisses vom Konflikt zwischen Konventionen und Wünschen, von innerem und äußerem Aufbruch, von Familie und Freundschaft. Und beweist damit, dass er es nach seinen großen internationalen Produktionen immer noch beherrscht, mit Inbrunst und Sinnlichkeit eine so fröhliche Geschichte über kleine Leute mit großen Wünschen zu erzählen.
Als Zuschauer erlebt man Woodstock durch die Hintertür, durch die Perspektive vieler verschiedener Figuren. Der Blick hinter die Kulissen erdet den Woodstock-Mythos und bringt ihn dadurch für die heutige Generation von innen heraus zum Tanzen.
„Wir dürfen diesen Geist nie verlieren, wir müssen ihn am Leben halten“, sagt Ang Lee dazu beherzt: „Es wird ewig währen, das Vermächtnis von Woodstock.“
Taking Woodstock
USA 2009, 110 Min., Regie: Ang Lee
Dr. Isabell Wohlfarth, geb. Goessele, arbeitet als Journalistin in Köln. Ihre Doktorarbeit wurde unter dem Titel “Das Kino des Ang Lee: Im Atem des verborgenen Drachen” veröffentlicht. Der Podcast wurde gesprochen von Susanne Hagen.
Hier alle Beiträge der Reihe „Mr. Lee And Me“.
Text und Podcast stehen unter der Creative Commons-Lizenz BY NC ND 4.0.
Quelle: Dr. Isabell Wohlfahrt, geb. Goessele
Das Foto im Banner stammt von Rex Bennett und steht unter der CC-Lizenz BY SA 2.0
Isabell Gössele
Das Kino des Ang Lee
Im Atem des verborgenen Drachen
Wissenschaftliche Beiträge
aus dem Tectum Verlag
Medienwissenschaften, Band 5
349 Seiten, Paperback, 2009
ISBN 978-3-8288-2046-3