Neu: „Tausendundein Buch“Behaust in einer unbehausten Welt

Eine neue Reihe bei SchönerDenken: Götz bringt uns besondere Literatur nah – tausendundeinmal.

Erstes Buch: Gerhard Meier „Baur und Bindschädler – Amrainer Tetralogie“

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Tausendundein BuchGerhard Meiers „Amrainer Tetralogie“ handelt von der großen Geschichte des Alltags. Wie nur wenige andere Autoren lehrt sein Erzählen ein schönes Denken. Meiersches Schreiben ist ein Schreiben der Gleichwertigkeit. Alles ist gleichwertig: die Erscheinungen der Natur im Wandel von Wetter und Jahreszeiten, die Schicksale der Bäcker, Schuhmacher, Malermeister, Uhrmacher, Viehhändler, der lebenden und toten Bewohner von Amrain, jenes fiktiven Ortes am Rand des Schweizer Jura, mit dessen Erfindung Meier seinen Geburtsort Niederbipp liebevoll transzendierte:

„Amrain war das Zentrum der Welt. Ich hatte es festgestellt, als ich an einem Morgen und sonntags zur Post ging, verhältnismäßig früh am Tag also, und Anfang November.“

Gleichwertig sind die Kirschbäume, Astern und Glyzinien, der Efeu und der wilde Wein mit den Bezugspunkten in der Literatur- und Kunstgeschichte, mit Tolstois „Krieg und Frieden“, Prousts „Combray“ und Caspar David Friedrichs Bild „Eiche im Schnee“, gleichwertig aber auch mit den vorstädtischen Gewerbegebieten und dem allgegenwärtigen Automobil- und Eisenbahnverkehr. Im Provinziellen spiegelt sich die Welt: bei Faulkner ist es ein begrenztes „County“ im amerikanischen Süden, bei Meier eben Amrain.

Mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp VerlagsAuf seinem gelassen aufgerollten Band des Erzählens kehrt alles wieder und wieder und hinter allem können sich Zeit und Raum entfalten, öffnen sich Fenster in die Vergangenheit oder an andere Orte, zum Beispiel wenn die freien Assoziationen Bezug nehmen auf die Indianer, nicht auf deren historische Wirklichkeit, sondern auf den Mythos, wie er von Cooper, Karl May und den Western des Kinos geschaffen wurde, dem Meier in fast kindlicher Weise anzuhängen scheint. Wichtig auch der Imaginationsraum „Russland“, und zwar jenes Russland, dass von Tolstoi, Puschkin und Tschechow überliefert wurde. Einer der vier Bände der Tetralogie lässt das Reden und Nachsinnen unter anderem um Napoleons Russland-Feldzug und Tolstois Schilderung der Schlacht von Borodino kreisen. „Borodino“ ist auch der Titel des Bandes. Die anderen Bände tragen die Titel: „Toteninsel“, „Land der Winde“ und „Ballade vom Schneien“.

Wie aber ist denn nun der Gang der Dinge in diesen jeweils recht kurzen, kaum mehr als 100 Seiten langen Romanen. Alles wird uns vermittelt durch Baur und Bindschädler, an deren Begegnungen wir teilnehmen. Es sind offensichtlich ältere Herren, Pensionäre vielleicht schon, die sehr viel Zeit haben und sich Zeit lassen, zum Schauen, zum Zuhören, zum Nachdenken. Im ersten Band begleiten wir sie auf einem Spaziergang durch Olten im Schweizer Kanton Solothurn. Im zweiten Band begegnen sie sich bei Baur in Amrain. Im dritten Band liegt Baur todkrank im Krankenhaus in Amrain und Bindschädler wacht in dessen Zimmer. Während es draußen schneit, vagabundieren Baurs Erinnerungen an sein Leben, befeuert von den starken Medikamenten. Und im letzten Band besucht Bindschädler das Grab seines Freundes und dessen Witwe und lässt die langen Jahre der Freundschaft mit Baur an seinem inneren Auge vorüberziehen.

Die ersten drei Bände sind weitgehend Monologe Baurs, die umrahmt sind von Bindschädlers Beschreibungen der unmittelbaren Gegenwart, die uns darüber unterrichten, wohin die Freunde gerade gehen, wo sie stehen bleiben, was sie tun, doch nicht nur das, denn während bei Baur die Worte fließen, fast ein wenig autoritär nach der unausgesetzten Aufmerksamkeit des Freundes heischend, den er immer wieder mit Nachnamen anspricht, so lässt sich Bindschädler von seinen Tagträumen und Gedanken dahintreiben, von deren ruhiger, lakonischer Trift ihn nur die Ansprachen seines Freundes wieder ablenken.

Beider Bildung ist autodidaktisch, schweifend, von einer überschaubaren Anzahl an Lieblingen in Literatur, Malerei und Film geprägt, denen sie immer wieder ihre Referenz erweisen. Dem ersten Roman der Folge steht eine berühmte Aussage Gustave Flauberts als Motto voran: „Was mir schön erscheint und was ich machen möchte, ist ein Buch über nichts.“ Meier hat dies eingelöst, wenn man das Zitat wie folgt ergänzt: „ein Buch über (alles und) nichts“. Flaubert hatte sein Ideal (auch er den Zusatz intendierend) dann in seinem letzten Roman „Bouvard und Pécuchet“  zu verwirklichen versucht; auch dort begleiten wir zwei schon etwas ältere Männer bei deren Unterhaltungen über „Gott und die Welt“.

Flauberts experimenteller Wurf war vielleicht ein Vorbild für Meier, doch während Flauberts komische Zeitgenossen mit enzyklopädischem Drang durch alle menschlichen Wissensgebiete von Agronomie bis Wasserheilkunde stümpern und streunen, zwei Kleinbürger, in deren närrischem Treiben Flaubert die Schwächen der menschlichen Intelligenz bloßstellt, wachsen uns die redlichen, in ihrem Denken sehr genauen Baur und Bindschädler leichter ans Herz; strahlt doch Zeile um Zeile eine ungeheure Wärme und Humanität von ihnen aus, die Flauberts abstrus-anarchisch agierende Helden nicht haben.

Beides hat ihnen ihr Schöpfer von sich mitgegeben, denn auch Gerhard Meier selbst muss wohl ein gutherziger Mensch gewesen sein. Geboren wurde er am 20. Juni 1917 in Niederbipp im Kanton Bern, einem heute rund 4.000 Einwohner zählenden Ort nahe Solothurn. Früher von der Landwirtschaft geprägt, siedelten sich in Niederbipp dank der guten Verkehrsanschlüsse nach und nach zahlreiche kleinere Industrien und Gewerbe an – diese Verbindung von Ländlichkeit und modernen Infrastrukturen, von Tradition und Moderne ist für Meiers Wahrnehmung der Welt von zentraler Bedeutung und wird in den Romanen immer wieder formuliert.

Meier selbst arbeitete jahrzehntelang in einer Lampenfabrik vor Ort, als Zeichner, Designer und schließlich technischer Leiter. Er hat seinen Geburtsort nur zum Reisen verlassen und lebte auch im Alter noch in seinem Elternhaus. Er war verheiratet und hatte drei Kinder. Meier starb am 22. Juni 2008, zwei Tage nach seinem 91. Geburtstag.  Hatte er während seines Studiums am Technikum in Burgdorf erste schriftstellerische Versuche unternommen, so gab er das Schreiben nach Beginn der Berufstätigkeit völlig auf. 1964 erschien ein erster Gedichtband. Erst mit über 50 Jahren entschloss er sich dazu als freier Schriftsteller zu leben.

So recht bekannt wurde er erst 1979, als Peter Handke (zu dessen Tugenden es ja gehört, auf vergessene oder kaum bekannt gewordene Autoren aufmerksam zu machen und sie mit der Macht seines Ruhms auch zu fördern) die Hälfte des ihm verliehenen Kafka-Preises Meier zukommen ließ. Doch Meier geriet nicht allzu sehr ins Licht der Öffentlichkeit und lebte weiter sein Dasein am Rand der großen Wege, das ihm behagte. Er nannte sich einmal einen „Provinzler, der aber immer nur die Welt in die Provinz hineinholen wollte“.

Die so gänzlich ereignisarmen Bücher sind spannend nicht dadurch, was sondern wie sie erzählen. „Das Tagesgeschehen“, so schreibt Peter Handke in seiner Würdigung „Skizze zu den Büchern Gerhard Meiers“,

„setzt sich weniger zusammen aus Haupt- und Staatsaktionen, Heldentaten, gewaltigen Entschlüssen, Aufbrüchen, als aus der stillen Festlichkeit, mit der sich die tagtäglichen Vorgänge, Abläufe, Wege, Handreichungen demjenigen zusammenfügen, welcher sie begleitet mit seiner Geistesgegenwart, seiner Bedächtigkeit, mit größtmöglichem Auge und Ohr … .“

Aus all den kleinen Beobachtungen, Assoziationen und Erinnerungen bildet sich in Meiers Schreiben eine Art Erdenalltag – ein Alltag, überhöht mittels Phantasie, nicht mehr und nicht weniger. Meiers Prosa ist nur auf den ersten Blick schlicht, tatsächlich ist sie kühn konstruiert und ihre Pfeiler sind der epische Dialog und der Konjunktiv. Trotz aller Reminiszenzen an die großen Prosaautoren des 19. Jahrhunderts ist Meiers Schreibkunst auch mit den Literaturwassern seines, des 20. Jahrhunderts gewaschen.

Meier schreibt fast immer von der Ankunft an einem Ort, und sei es ein alt vertrauter, den man nie verlassen hat; Aufbrüche und Veränderungen sind zumindest vordergründig nicht sein Thema; wenn, so sind es Veränderungen im Stillen. Baur und Bindschädler sind behaust in einer unbehausten Welt. Und ihr Dach ist ihre vorurteilsfreie, tolerante, gleichmäßige und vor allem poetische Wahrnehmung. Folgen wir zum Ausklang noch ein wenig dem Erzählen Gerhard Meiers, um dessen Art kennenzulernen: Zu Beginn von „Land der Winde“ steht Bindschädler an Kaspar Baurs Grab und hört die Stimme des Freundes aus einem Strauß Winterastern hervor wie einst zu ihm reden:

„Viele meiner Kollegen waren Macher. Und Gemachtes ist leichter nachzuvollziehen. Ich war ein Wesen, das aus der Müdigkeit kam. Vielleicht kommt auch das Maßliebchen von dort?“

So hebt Baurs Rede an. Irgendwann wird sie vom „Gerassel eines Schnellzugs“ zugedeckt. Doch Bindschädler bleibt weiter am Grab stehen und lässt nun seinerseits seine Gedanken schweifen, greift sozusagen die von Baur begonnene Kette auf und fügt ihr weitere lose Glieder hinzu. Das Licht, die Birken tragen ihn nach Russland, zu den Schrecken des Zweiten Weltkriegs und zur Lage der gegenwärtigen Sowjetunion, wo Gorbatschow Glasnost und Perestroika eingeleitet hat, und wieder zurück nach Amrain zu den früheren Begegnungen mit Baur.

„Die geistige Qual, sich etwas anderes als das bestehende System vorzustellen, muteten sich nur wenige Sowjetbürger zu. Siebzig Jahre nach der Oktoberrevolution herrschte Resignation vor oder die bare Genügsamkeit eines duldsamen Volkes. Ich dachte an die Amrainer Karnevalstage, die Kaspar, Katharina und ich miteinander verbracht hatten, nachdem ich kurz zuvor ‚Krieg und Frieden’ gelesen hatte, und erinnerte mich an das Gemisch, welches aus Tolstois Roman, dem Gerede Baurs, dem Kindermaskenzug und dem Schnarren der Rätschen entstanden war.“

Nachdem er den Friedhof verlassen hat, bewegt sich Bindschädler durch das Dorf und bleibt an verschiedenen Orten stehen, die ihn mit Baurs Leben und den Geschichten Amrains in Verbindung bringen, bis er vor Baurs Grundstück steht:

„Hier, in dieser drei- bis vierhundertjährigen Liegenschaft hatte Baur mit seiner Katharina, den Kindern gehaust. Auch seine Eltern hatten schon hier gelebt. Im Obstgarten soll Baur als Knabe ganze Tage in den Bäumen zugebracht haben, in den Zwetschgenbäumen auch, deren Früchte, gepudert mit Himmelsstaub, er immer bewundert habe. In diesen Bäumen habe er der Zeit gelauscht, zuweilen sogar zugeschaut,…Und dort seien auch die Geräusche Amrains in ihn eingegangen, das Klick…Klick…der Apfelpresse zum Beispiel, das sich aus dem Gebäude des Schlossers vorn an der Straße davongestohlen und über Amrain ausgebreitet habe zur Apfelzeit. Und der Most frisch ab Presse sei dann so etwas wie flüssiges Herbstlicht gewesen.“

Dann sitzt er Baurs Frau Katharina gegenüber, und deren Tun entspricht so ganz und gar dem, was Gerhard Meier beim Erzählen macht. Sie häkelt nämlich an „ihrer Decke, die so etwas wie einen Teppich darstellte, mit Motiven, Farben, die sich wiederholten, so dass das Ganze ein in sich geschlossenes Bildwerk abzugeben versprach.“ Und tatsächlich erfährt der Leser bald darauf, dass sich Baur einen gelungenen Roman wie ein Teppichgewebe vorstellte.
Katharina kocht für den Gast: Eierpilze, Reis, Salat. Es gibt Rotwein, später Kaffee und Gebäck und „der Martinisömmerchentag begann zu erlöschen, während der Große Bär sich anschicken musste, über dem Jura aufzuziehen.“ Dann sitzen sie lange beim Kaminfeuer zusammen. Es gibt noch einmal Kaffee, noch einmal Rotwein. Katharina trinkt pro forma, Bindschädler nimmt große Schlucke. Man erfährt, dass „Kaspar sich als Schriftsteller gefühlt, obwohl er seine Texte in den Wind geschrieben hatte.“ Man erfährt etwas über Lektüren, die er mochte: Robert Walser, Proust, Tolstoi, Claude Simon. Man erfährt etwas über Reisen von Kaspar und Katharina nach Israel, nach Venedig. Katharina erzählt von einer Theaterinszenierung des „Onkel Wanja“ von Tschechow, die sie im Fernsehen sah, was ihr „größtes Theatererlebnis“ gewesen sei. Der Kindermaskenzug von damals, Gemälde-, Musikeindrücke flackern auf. Man erfährt davon, dass Kaspar Architekt werden wollte (wie Gerhard Meier), von Baurs Arbeit in einer Fabrik, von seiner kleinen Karriere dort – beide zusammen – Bindschädler und Katharina – „häkeln“ uns sozusagen ein Bild des verstorbenen Ehemanns und Freundes. Und zum Ende bringt Katharina Pfefferminztee. „Ich trank eine Tasse, verabschiedete mich und eilte zur Bahn.“ – so Bindschädler, der, wieder zu Hause, einen alten Brief des Freundes hervorholt, in dem dieser von einer Reise zum Geburtshaus seiner Mutter berichtet, das im „Land der Winde“ steht.
Die „Amrainer Tetralogie“ ist erschienen in der „Bibliothek Suhrkamp“ und als vierbändige Kassette erhältlich.

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