Hendrik liest Kalpa Imperial – The Greatest Empire That Never Was von Angélica Borodischer
… it was now, by the way, a city: a city with wide but crooked streets that led to no port, no beach, no viewpoint, only to other crooked streets that ended in a dilapidated wall or an empty lot strewn with rubbish. There were more starving cats than there were glossy ponies with silver-mounted harness; there were more suicides than schoolmasters, more drunks than mathematicians, more cardsharps than musicians, more travelling salesmen than storytellers, more snake-charmers than architects, more quacks than poets. And yet, ah yet! it was a restless city, a city that was looking for something and didn’t know quite what, like all adolescents…
Es ist eigentlich merkwürdig: ich würde nie glücklich in einer großen Stadt leben wollen, aber ich lese gern über Städte. Noch richtiger: Ich lese gern über die Ideen von Städten. Ich liebe Italo Calvinos Die unsichtbaren Städte, in denen Marco Polo dem Kublai Khan von den Städten und Stätten berichtet, die er auf seinen Reisen und in seinen Träumen besuchte: Städte der Lebenden und der Toten, Metropolen des Handelns und des Streitens, neugeborene oder sterbende, unterirdische oder schwebende, reale oder geträumte Orte. Ich streife lesend ebenso gern durch Joyces Dublin, Micheners Tel Makor, Schamis Damaskus und Balzacs Paris wie durch schon etwas fiktionalisierte Mauern und Straßen, beginnend z.B. bei Finneys nostalgisch-verklärtem alten New York, Süskinds wimmelnd-stinklebendigem Paris, Lightmans zum poetisch-relativitätstheoretischen Gedankenexperiment gewandelten winterlichen Zürich bis hin zu völlig denkbar-unmöglichen utopischen und exotischen Orten, die von ihren träumenden Architekten nur schreibend und in den Ländern der Phantasie errichtet werden können: Tolkiens Minas Tirith, Peakes Gormenghast, Le Guins Es Toch, und so fort.
Manche Städte sind Spiegel der unendlichen Vielfalt menschlichen Seins, andere Gips- und Marmorabdrücke einer einzigen mächtigen, alles andere verdrängenden Idee: der Furcht, der Gier, des Narzissmus – aber vielleicht auch der Liebe zur Natur oder zur Kunst, der Demut, des berechtigten Stolzes, des hart erkämpften selbstbewussten harmonischen Zusammenlebens Gleichberechtigter, der puren Vielfalt des Lebens selbst. Literarische Städte sind so stets die Manifestationen bestimmter Aspekte des Daseins, und es ist eine meiner großen Leserfreuden, durch die Straßen und Arkaden solcher Imaginationen zu streifen.
Auch die Argentinierin Angélica Gorodischer ist eine träumende Architektin und errichtet in ihrem – leider bislang nicht ins Deutsche übersetzten – Buch Kalpa Imperial von einem Imperium und den Städten darin. Sie lässt ihren Geschichtenerzähler vom Werden und Sterben der Herrscherdynastien berichten, von den auf den Resten primitiver steinerner Hütten errichteten prächtigen Palästen, die irgendwann verlassen werden, verfallen und teils als geheimnisumwitterte Ruinen, teils als Steinbrüche für die Erbauer primitiver Hütten enden. Sie erzählt die Geschichte dieser Orte, wie Vergangenheit erzählt werden sollte: nicht als seelenloses Gerüst aus Namen und Fakten, sondern als Quelle für das Verstehen des Gegenwärtigen, des Lebens und der menschlichen Existenz.
Im Unterschied zu den oftmals schulmeisterlich-gezirkelten Gedankengrundrissen älterer utopischer Orte lässt Gorodischer ihren Erzähler wie einen guten Reiseführer einherschlendern und seine besondere Sicht der Dinge in Bildern und spielerischen Assoziationen feilbieten –
… do any of you have the honor of being acquainted with a gardener? They are admirable people, believe me, but they don’t go around making comments on their own or other people’s mental condition. They stay close to the ground, and know many names in different languages, and nothing in this world impresses them much, since they see life in the right way, as it should be seen, from below looking up, and in concentric circles.
Damit ist Gorodischers Buch ein Lesefest für alle, die sich gerne in der Sprachmagie der Werke Garcia Marquez‘, Borges oder Cabrera Infantes und anderer südamerikanischer AutorInnen ergehen. Wer eine schnellere, mehr an den Attraktionen von Handlung und persönlichem Drama orientierte Lesegangart bevorzugt, den wird Kalpa Imperial ungeduldig machen. Die Personen des Buches – Prinzen, Emporkömmlinge, Händlerinnen, Diebe – sind weniger Charaktere, vielmehr nur Bewohner jener Orte, welche sich selbst zugleich Protagonisten als auch Metaphern sind. Wer jedoch den tieferen Strömungen des Werdens und Vergehens folgt, den kann ein Besuch in Kalpa Imperial nur völlig verzaubern.
Dem Buch ist die kühle Wucht einer antiken Sage zu eigen und auch die Weltweisheit, die sich wie eine kleine Eidechse zwischen alten Steinen zuweilen zwischen den Worten verbirgt. Gorodischer ist dabei vor allem weise genug, ihren Sprecher diese Wucht zuweilen mit erfrischender Selbstironie auflockern zu lassen –
Even misfortune has its advantages, say the wise. Of course the wise say stupid things, because even wisdom has its foolishness, say I.
Alles in allem: eine der schönsten Städtereisen, die ich seit langem unternehmen durfte, und ich danke Ursula Le Guin dafür, dass sie dieses Buch 2003 ins Englische übertragen hat, so dass es mir per Zufall in die Hände fallen konnte.
P.S. Die anderen hier erwähnten Städte und Reisen finden sich in: Italo Calvino, Die unsichtbaren Städte; Marco Polo, Il Milione; James Joyce, Dubliners und Ulysses; James A. Michener, Die Quelle; Rafik Schami, Erzähler der Nacht; Honoré de Balzac, Pariser Geschichten; Jack Finney, Das andere Ufer der Zeit; Patrick Süskind, Das Parfüm; Alan Lightman, Und immer wieder die Zeit; J.R.R. Tolkien, Der Herr der Ringe; Mervyn Peake, Gormenghast; Ursula Le Guin, Stadt der Illusionen.