Sich den Wonnen der Phantasiehingeben

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Nachtlektüre: Götz liest den Wolkenatlas von David Mitchell
Ein großer Reiz des Schreibens liegt darin, sich in jede beliebige Zeit und an jeden beliebigen Ort versetzen zu können, allein die – allerdings nicht gering zu achtende – Mühe des Formulierens und die Grenzen unserer Phantasie vermögen uns daran zu hindern durch die Straßen des antiken Rom oder des mittelalterlichen Paris zu flanieren, durch das New York des Jahres 2222 zu gleiten, einen Piratenschatz auf einer Pazifikinsel zu suchen oder mit einem Expeditionstrupp ins innerste Asien vorzustoßen. Wir können ein russischer Ikonenmaler im Venedig der Renaissancezeit, ein mit den Indianern befreundeter Trapper am Oberlauf des Missouri, der Astronaut eines neue Galaxien erforschenden Raumschiffs oder ein Geheimagent während des ersten Weltkriegs sein. Wählt man gar die Ich-Form kann man zum Beispiel mittels eines fiktiven Tagebuchs oder einer Folge von Briefen in jede gewünschte Rolle schlüpfen, was fraglos auch die Inspiration befeuert.

Der 1969 im englischen Southport geborene David Mitchell hat sich in seinem äußerst ungewöhnlichen Roman „Der Wolkenatlas“ diesen Wonnen hingegeben, die aber wahrscheinlich eher der Lohn harter Arbeit waren. Es handelt sich auch um eine versteckte Hommage an zahlreiche Lieblingsbücher des Autors selbst, zurückreichend wohl bis zu den Leseabenteurn des Jugendlichen. Weist Mitchells Werk in die Zukunft des Prosaschreibens voraus? Der Globalisierung entsprechend spannt er den Zeit- und Raumbogen denkbar weit, schreibt in gewisser Weise jene „Weltliteratur“, die vielleicht schon Goethe im Sinn hatte, als er diesen Begriff prägte, nämlich eine nicht mehr an die konkrete nationale, gegenwärtige Faktenwelt gebundene, sondern überall sich tummelnde, frei von Land zu Land und von Epoche zu Epoche schweifende, über alle Stile und Genres verfügende Literatur, die in diesem Fall hier sehr epikuräisch auftritt und vor allem auf die Freude des Lesers zielt. Auf die Frage allerdings, ob es sich überhaupt um einen Roman handelt, oder ob hier bloß ein verkaufsträchtigeres Etikett für eine Sammlung von Erzählungen gefunden wurde, gehe ich gleich noch ein.

Zunächst der Inhalt: Sechs Geschichten, sechs verschiedene Zeiten, sechs verschiedene Orte, sechs verschiedene Gattungen, sechs verschiedene Stile: Reise-Tagebuch, Briefroman, Thriller, Satire, Science Fiction, mündliche Erzählung. 19. Jahrhundert: Ein junger amerikanischer Notar lernt in der Südsee einen zwielichtigen Arzt kennen und stellt sich schützend vor einen blinden Passagier. Sein naiver Glaube an das Gute im Menschen zerbricht während einer Schiffspassage auf tragische Weise. 1931: Ein junger englischer Musiker hilft einem alten, kranken Komponisten auf dessen Landschloss beim Komponieren und verstrickt sich in ein erotisches va-banque-Spiel mit der Frau und der Tochter des alten Mannes. Anfang der 70er Jahre: eine junge Journalistin ist der skandalösen Vertuschung von Gefahren in einem neuen Atomkraftwerk auf der Spur und riskiert ihr Leben. Gegenwart: einem Londoner Schundverleger steigt ein Verkaufserfolg zu Kopf, er landet irrtümlich im Irrenhaus. Zukunft (möglicherweise am Ende dieses Jahrhunderts): Eine weibliche „Duplikantin“, die in einer Art futuristischem MacDonalds-Lokal existiert und arbeitet, wird aus ihrem programmierten Sklavendasein befreit und in der Außenwelt zu einem immer menschlicheren Geschöpf, weshalb sie später einem strengen Verhör unterzogen wird. Fernste Zukunft: nach einer globalen Menschheitskatastrophe, wird die Geschichte von Schuld und Erlösung noch einmal von einem jungen, tumben Ziegenhirten erzählt, der mit seiner Familie auf einer nur noch rudimentär zivilisierten, von einem wilden Stamm terrorisierten Insel lebt. Diese letzte ist die zentrale Erzählung, die als einzige nicht zweigeteilt ist. Von ihr verläuft der Zeitpfeil wieder rückwärts und das Buch endet mit dem Reisetagebuch des Südseereisenden, das am Anfang stand. Die sechs Protagonisten vereint die Idee der Seelenwanderung, sie alle tragen ein gemeinsames körperliches Merkmal.

Eine solche Freude am Fabulieren, die aber niemals zum Selbstzweck wird, solch frappierend glaubwürdige Phantasiewelten, solche Situationskomik, eine solch reiche Sprache und Anschaulichkeit kann man in der jüngeren Literatur lange suchen. Man hat Mitchell einen perfekten Stimmenimitator genannt, und das war natürlich ein Lob mit Widerhaken, denn man könnte ihn, bösartiger, einen postmodernen Parasiten im Fell des Körpers Weltliteratur nennen, der sich etwa Mark Twains Slangsprache im „Huckleberry Finn“ in vollkommener Weise zu Eigen macht. Nur, Mitchells „Huck Finn“ heißt Zachry und ist eben jener Ziegenhirte auf Hawaii in fernster, fernster Zukunft, lange nach dem „Untergang“ und das klingt dann so:

„Östlich von Sloosha stiegen wir nich den Kukuihaelepfad rauf, nee, wir wanderten am Waiulili lang nach Süden un ich erkannte die Lichtung bei den Hiilawefällen wieder. Hier hatt ich vor fümf-seks Jahrn die Kona überrascht wo Pa umgebracht hatten. Ganz zugewaksen war sie, nur inner Mitte warn noch verbrannte Spurn von alten Lagerfeuern. An ner flachen Stelle vom Hiilaweteich spießte ich mit Jonas seim Geschenk zwei Rotbarsche damit wir genuch zum Kaun hatten. S regnete un der Waiulili war zu reißnd zum Durchgehn, drum schlugen wir uns durchs Zuckerrohr, ja, s war n halber Tag mühsames Voran bis wir den Kohala Kamm erreichten. Die windiche Weite nahm uns den Atem, un durch die Risse in den Wolken konnten wir den Mauna Kea sehn, ja, höher als wie der Himmel. Klar hatt ich n Mauna Kea schon von Honokaa gesehn, aber n Berg wo du besteigen willst is nich derselbe als wie einer wo dus nich willst. Nee, viel hübscher is der, un wenn du ganz still bist, kannst du ihn sogar hörn …“.


Mitchell imitiert und schafft doch etwas Neues, Eigenes.
Ob das mehrfach preisgekrönte Werk schon als Roman konzipiert war? Es mag sein – allein mir fehlt der Glaube. Ich will unterstellen, dass Mitchell ursprünglich isolierte Texte, vielleicht in Absprache mit einem Lektor, zu einem einzigen Werk verknüpfte, indem er dezente Verweise, Andeutungen und Überleitungen erfand. So findet der junge Musiker das Reisetagebuch Ewings in der Bibliothek des Schlosses und Lisa liest die Briefe des Pianisten, die sie bei dem Atomwissenschaftler, dem Adressaten seiner Briefe fand. Und Zachrys Gottheit ist die vom Klon zum Menschen aufgestiegene Duplikantin Somni. Ich empfehle der zwar sinnreichen, aber den Lesegenuss hemmenden Anordnung des Autors nicht zu folgen und die einzelnen Geschichten am Stück zu lesen, um mit Zachrys Erzählung zu enden, den Zeitpfeil also nicht wieder rückwärts, sondern nur in eine Richtung laufen zu lassen.

David Mitchells „Der Wolkenatlas“ ist erschienen im Rowohlt Verlag
Einige Meinungen zum Wolkenatlas, zusammengefasst von den Perlentauchern
Martin Ebel (Deutschlandradio) fragt sich „Funktioniert das?“
Begeistert: Deutsche Welle

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