Manchmal hinterfragt man ja seine eigenen Neigungen – in meinem Fall zur Science-Fiction und zur phantastischen Literatur – und überlegt, was diese Romane bieten, was bei anderen fehlt – mal von der kindlichen Begeisterung für Raumanzüge und Raumschiffe, außerirdisches Leben und Reisen Richtung Unendlichkeit abgesehen.
Bei der Lektüre von Vernor Vinges Roman „Eine Tiefe am Himmel“ (A Deepness in the Sky) wurde mir ein ebenso wesentliches wie exklusives Merkmal deutlich: Die Möglichkeit einen „Was wäre wenn“-Gedanken zu Ende zu spinnen, weit über die Grenzen unserer Technik und manchmal über den bekannten Rahmen der Naturgesetze hinaus. Und dieses „Was-wäre-wenn“-Spiel kann sehr viel über unsere gegenwärtige Welt aussagen, auch wenn es vordergründig unser eigenes Leben gar nicht verhandelt.
Zerbrechliche Zivilisationen
Eine besondere Faszination geht von der komplexen Ausgangsstruktur aus, die Vinge für „Eine Tiefe am Himmel“ wählt: Die Menschen haben sich über Jahrtausende in der Zukunft langsam über die Sonnensysteme verbreitet. Sie haben Kälteschlafkammern und können so die lange Reisezeit zwischen den Sternen auf sich nehmen ohne zu altern. Über die Jahrtausende machen die Menschen immer wieder die Erfahrung, dass alle menschlichen Zivilisationen irgendwann zerbrechen – zumindest wenn sie an eine (planetare) Welt gebunden sind. Und bei ihrem Zusammenbruch verlieren sie fast ihr ganzes technisches Wissen, büssen alles ein, was sie in den Natur- und Geisteswissenschaften erreicht hatten.
Diesem Schicksal könnte eine Gesellschaft von so genannten Kauffahrern entgehen: die Dschöng Ho. Sie reisen zwischen den Planeten und treiben erfolgreich Handel – und bleiben so unberührt vom Untergang einzelner Welten. Nach dem Willen ihres Anführers Pham Nuwen könnten die Dschöng Ho das stabilisierende Zentrum einer übergreifenden Zivilisation sein. Nur ein Traum?
„Pham hatte seine Antwort auf diese Frage persönlich und über das Netzwerk der Dschöng Ho gepredigt. Lokale Zivilisationen sind allesamt isolierte Fallen. Eine einfache Katastrophe könnte sie auslöschen, doch ein wenig Hilfe von außen würde sie vielleicht in die Sicherheit führen.“
So faszinerend diese Idee schon ist, bildet sie doch nur den Hintergrund für die eigentliche Geschichte. Die beginnt nämlich als eine Flotte der Dschöng Ho aufbricht, um den so genannten Ein-Aus-Stern zu erforschen und dort eine „Kunden-Zivilisation“ oder Rohstoffe zu finden. Der Ein-Aus-Stern ist einmalig: Nach einigen Jahrzehnten erlischt sein Feuer für etwa 200 Jahre und flammt dann wieder auf. Vor Ort treffen sie aber auf Konkurrenten: die Aufsteiger.
Sklaven und Spinnen
Die Aufsteiger haben den Zusammenbruch ihrer Gesellschaft schon hinter sich. Aber sie schaffen – wie der Name sagt – aus eigener Kraft den Wiederaufbau ihrer Welt – vor allem mithilfe einer besonderen Technik: dem Fokus. Diese neurologische Technologie ermöglicht es, dass sich Menschen absolut vollständig nur einer Aufgabe verschreiben, für nichts anderes mehr ansprechbar sind, in ihrem Spezialgebiet dann aber fast Unmögliches leisten: menschliche Hochleistungscomputer und in der Gesellschaft der Aufsteiger eine Kaste von autistischen Sklaven. Als Aufsteiger und Dschöng Ho aufeinandertreffen kommt es zum Konflikt – die beiden verschiedenen Kulturen stehen am Rande eines Krieges …
Der Hauptplanet im System des Ein-Aus-Sterns hält aber noch eine völlig andere Überraschung bereit: Trotz des zerstörerischen Wechsels zwischen langen Jahren tödlicher Kälte und einem alles zerschmelzenden Wiederaufflammen der Sonne hat eine intelligente Lebensform gelernt, hier zu überleben. Es handelt sich um spinnenähnliche Wesen, die während der Kälte in tiefe Höhlen hinabsteigen und in einen Winterschlaf fallen und die immer aufs Neue ihre Welt aufbauen, wenn die Sonne wieder zurückgekehrt ist. Und die Spinnen haben etwas Besonderes vollbracht: Sie entwickeln sich rasant weiter, verlieren während der Kälte das gewonnene Wissen nicht.
Beeindruckend an diesem 816-Seiten-Roman sind die Fülle der Probleme, die Vinge aufgreift und durchdenkt: Unter welchen Bedingungen darf eine versklavende Technologie wie der Fokus eingesetzt werden? Welche ethischen Grenzen sind unüberschreitbar? Was kann den Zusammenbruch einer Zivilisation verhindern? Welche kulturellen Besonderheiten und Probleme hat eine Zivilisation, die immer wieder ihre Welt neu aufbauen muss? Was passiert, wenn neue Technologien bislang sinnvolle Traditionen in Frage stellen?
Spannung garantiert
Noch beeindruckender sind die Charaktere, die uns Vinge nahe bringt: zum Beispiel Tomas Nau, der kluge und gefährliche Hülsenmeister der Aufsteiger, der alte Dschöng Ho-Veteran Trinli, aber vor allem der geniale Erfinder Scherkaner Unterberg und die anderen Spinnen. Wir lernen die Spinnen durch die Berichte der fokussierten Übersetzer kennen und diese Übersetzer vermenschlichen die fremde Lebensform – ein kluger Schachzug des Autors, denn dadurch werden „menschliche“ Elemente der Spinnenwelt plausibel und bauen eine enorme Anziehungskraft auf. Dazu ist dieser Roman gespickt mit Rückblenden zur Geschichte der Dschöng Ho, er ist spannend – gegen Ende wirklich nervenaufreibend und er lässt dem Leser keine Wahl: Nach einigen Seiten beginnt man sich mit den Protagonisten zu identifizieren – mit den achtbeinigen sogar mehr als mit den zweibeinigen. Denn bis der Leser entdeckt, dass die Helden Spinnen sind, hat er sie schon ins Herz geschlossen. Erst spät rückt das monströse Äußere ins Bewußtsein:
„Der menschliche Geist war nicht dafür geschaffen, mit solchen Wesen warm zu werden. Sie schienen keine Augen zu haben, nur die kristallenen Schalen, die besser als jedes menschliche Augen zu sehen schienen. Ihre Esshände waren ständig in Bewegung, mit Bedeutungen, die Ezr gerade erst zu verstehen begann. Und wenn sie mit ihren Hauptarmen gestikulierten, waren die Bewegungen abrupt und aggressiv, wie ein Wesen im Angriff.“
Eine dringende Leseempfehlung also an alle, die den Atem für eine lange, verwickelte, außerordentlich kluge Geschichte haben. „Eine Tiefe am Himmel“ von 1999 habe ich übrigens rein zufällig als Mängelexemplar im Buchladenramsch mitgenommen – den SF-Experten in meinem Freundeskreis war das Buch nicht bekannt. Das werde ich jetzt ändern, denn der Roman ist auf jeden Fall eines der besten Bücher der letzten Jahre. Und es ist ein gutes Beispiel für die besonderen Qualitäten, die nur Science-Fiction-Literatur bieten kann.
Vernor Vinge
Eine Tiefe am Himmel (A Deepness in the Sky)
816 Seiten
ISBN 978-3-453-52223-7
P.S. Der Name „Dschöng Ho“ ist inspiriert vom chinesischen Seefahrer und Entdecker Zheng He.