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Als junger US-Soldat erlebte er den D-Day an der Küste der Normandie. Er liebte ein Mädchen, das dann Charlie Chaplin heiraten sollte. Mit dem Roman „Der Fänger im Roggen“ wurde er weltberühmt. Doch J.D. Salinger wollte irgendwann kein öffentlicher Schriftsteller mehr sein. Seit 1965 schwieg er. Götz wirft einen Blick auf sein Leben und Werk mit einigen Seitenblicken auf andere „verschollene“ Autoren.
„Das nach innen gerichtete Leben, von dem ich immer geträumt habe, beginnt endlich näher zu kommen … Es ist seltsam, wie ich … alle Sucht nach Berühmtheit verloren habe … Ich hege große Zweifel, dass ich überhaupt jemals eine Zeile drucken lassen werde … Ein Künstler, der wirklich nur Künstler ist, für sich allein und ohne sich um etwas anderes zu kümmern, das wäre etwas Schönes … Ich lebe allein, sehr allein, immer mehr allein.“
Das schreibt Gustave Flaubert in einem Brief an seinen Freund Maxime du Camp, im April 1846.
Ich habe wieder einmal Salinger gelesen. Er gehört zu jener Gattung von Schriftstellern, die sich scheinbar wenig um Ruhm und öffentliche Anerkennung scheren, die dem einmal gewonnenen Ruhm entfliehen wollen oder ihn zu Lebzeiten wieder verlieren. Wie Herman Melville, der nach dem Misserfolg des „Moby Dick“ langsam der literarischen Welt abhanden kam und, als ein Verschollener des Alltags, als Zollinspektor im New Yorker Hafen arbeitete und fortan nur noch schrieb um des Schreibens willen. Bei seinem Tod war er als Autor fast vergessen. Salinger dagegen hat wahrlich viel versucht, um wieder ein „Niemand“ zu werden, doch es ist ihm nicht gelungen, im Gegenteil. Oft sind es gerade die großen Autoren, deren Verhältnis zur Öffentlichkeit so problematisch ist.
Fänger im Roggen
Salinger verdankt seinen Ruhm im Wesentlichen dem Roman „Der Fänger im Roggen (The Catcher in the Rye)“. Man sollte ihn allerdings früh gelesen haben, da er bei fünfzehn- bis zwanzigjährigen Lesern seine maximale Wirkung entfaltet. „Der Fänger im Roggen“ wird auch noch in einhundert Jahren eine der intensivsten Leseerfahrungen sein, die man als junger Mensch machen kann. Meine erste Lektüre des „Fängers“ warf mich von einem Lachkrampf in den nächsten: Holdens Kommentare, seine Übertreibungen waren einfach unschlagbar. Salingers Kunstgriff, einen Jugendlichen in „seiner“ Sprache erzählen zu lassen, knüpfte an Mark Twains „Huckleberry Finn“ an. Auf Twains Prosastil baut nach einem Diktum Hemingways ohnehin alle moderne amerikanische Literatur auf, und viele spätere Geschichten über das Erwachsenwerden knüpften wieder an Salinger an, auch in deutscher Sprache, etwa Plenzdorfs „Die neuen Leiden des jungen W.“ oder Krachts „Faserland“.
Die übrigen Werke in Salingers äußerst schmalem Oeuvre – so weit es bis heute bekannt ist – stehen seit je im Schatten des „Fängers“, selbstverständlich zu Unrecht. Einige von ihnen sollen hier mit einer besonderen Empfehlung vorgestellt werden.
Franny und Zooey
Kürzlich ist eine Neuübersetzung von Salingers Diptychon „Franny und Zooey (Franny and Zooey)“ erschienen, zwei Erzählungen, die man auch als einen Roman lesen kann. In den sechziger Jahren wurde Salingers Werk in Deutschland anhand der Übersetzungen von Annemarie und Heinrich Böll bekannt, und man kann weiterhin getrost zu diesen Übertragungen greifen, sie genießen selbst Klassikerstatus.
Neun Erzählungen
Als ich mir vor einiger Zeit aus den „Neun Erzählungen (Nine Stories)“ meine Lieblingsgeschichten „Der lachende Mann (The Laughing Man)“, „Unten beim Boot (Down at the Dinghy)“ und „Für Esmé – mit Liebe und Unrat (For Esmé – with Love and Squalor)“ herauspickte, dachte ich, dass sie es wert seien Jahr für Jahr gelesen zu werden. Ich nahm sie endgültig auf in meinen privaten Kanon an Lieblingsbüchern.
„Der Rest ist Schweigen“ (seit 1965)
Nun aber zu einigen erstaunlichen Fakten aus einem erstaunlichen Leben, so wie sie Ian Hamilton für sein vorzügliches Buch „Auf der Suche nach J.D. Salinger“ recherchiert hat. Salinger, um mit dem vorläufig letzten gesicherten Faktum zu beginnen, hat seit 1965 nichts mehr veröffentlicht. Der letzte Text, den er zur Publikation herausgab, erschien am 19. Juni 1965 unter dem Titel „Hapworth 16, 1924“ in der Zeitschrift „The New Yorker“. Seither schweigt Salinger, ein Totalverweigerer, der zu allen Aufforderungen am literarischen Leben teilzunehmen: „I would prefer not to“ sagt. Er lebt wohl noch, hoch betagt, in Cornish, Neu-England, und verprügelt alle Journalisten und Fans, die ihm zu nahe kommen.
Ein Schnappschuss hat diesen „angry old man“ eingefangen, wie er mit der Faust gegen eine Autoscheibe schlägt. Das Foto wurde aus dem sicheren Auto heraus aufgenommen und man sieht tiefe Zornesfalten auf Salingers Stirn und den Blick eines Besessenen. Doch zugleich könnte man sich diesen wütenden Alten mit der großen Nase und dem langen Gesicht als grandiosen Großvater einer Horde von Enkeln vorstellen. Salingers Wohnort ist also verifizierbar, über die Frage, ob er noch schreibt, kann man nur spekulieren. Angeblich soll er die Schubkästen in seinem von einem zwei Meter hohen Zaun umgebenen Bunker voller Manuskripte haben.
Auf Augenhöhe mit der Kindheit
Geboren wurde Jerome David Salinger an Neujahr 1919. Er wuchs in Manhattan auf. Und er muss diese Kindheit tief genossen haben. Sie trägt sein ganzes Werk. Sich aus der Kindheit zu lösen, muss ihm mindestens so schwer gefallen sein wie Holden Caulfield, und in gewisser Weise ist es ihm, zu des Lesers Glück, niemals ganz gelungen. Immer wieder begegnen wir in Salingers Werk Erwachsenen, die sich auf Augenhöhe mit Kindern unterhalten, sich geradezu mit Wonne auf diese Augenhöhe begeben. Und die Kinder kommen den Erwachsenen entgegen, indem sie geistreich und von einer ungeheuren Eloquenz sind, die man ihnen aber jederzeit zutraut.
Ende der Kindheit
Salingers Kindheit endete endgültig an der Front des Zweiten Weltkriegs. Davon erzählt er in „Für Esmé – mit Liebe und Unrat“. Ein Abschied war es, der schrittweise verlief und dessen Etappen etwa auch die Erzählungen „Der lachende Mann“ und „Unten beim Boot“ markieren. Und von der zentralen Figur in Salingers zuletzt veröffentlichten Erzählungen, dem psychisch labilen Seymour Glass, erfahren wir bereits in der früher erschienenen Geschichte „Ein perfekter Tag für Bananenfisch (A Perfect Day for Bananafish)“, dass er sich als jung verheirateter Mann das Leben nehmen wird, zweifellos auch, um dem Erwachsenendasein zu entgehen. Bevor sich Seymour in einem Hotelzimmer die Waffe an die Schläfe setzt, spielt er bezeichnenderweise am Strand mit einem kleinen Mädchen.
Für Salinger selbst war es gewiss eine tiefe Zäsur, als er mit fünfzehn Jahren auf die Militärakademie Valley Forge kam – Vorbild für die Schule, die Holden zu Beginn des „Fängers im Roggen“ verlässt. Sein Vater war Direktor einer Lebensmittelimport-Firma, seine Mutter soll für eine Weile Varietétänzerin gewesen oder im Vaudeville-Theater aufgetreten sein. Der junge Salinger begeisterte sich ebenfalls für die Bühne, war in Valley Forge Mitglied in einem Theaterclub. Für seine Mitschüler ist er bereits der Sprachexperte, sie nennen ihn den „Schriftsteller“. Am Ende seiner Schulzeit, 1936, steht für Salinger fest, dass er genau das werden will, allerdings geht seine Vorstellung wohl noch mehr in Richtung eines gut verdienenden Autors in Hollywood.
Der „Profi“
Das Kino muss Salinger, obwohl er seine Figuren fast nur verächtlich über den Film sprechen lässt, sehr fasziniert haben. Es hat seinen Stil, insbesondere seine Dialogführung geprägt. Es scheint manchmal, als habe er bei den besten Drehbuchautoren Hollywoods studiert. Salinger wollte ein „Profi“ werden – dieser Begriff hat für ihn eine zentrale Bedeutung. Ein „Profi“ schrieb immer, nicht nur, wenn ihn die Muse küsste, ein „Profi“ verdiente sein Geld mit Worten, ein „Profi“ kannte den Markt und wusste sich zu verkaufen.
Doch zunächst immatrikuliert sich Salinger an der New York University, bricht das Studium aber bereits nach einem Jahr wieder ab. Angeblich klopft er in der folgenden Zeit erfolglos bei diversen New Yorker Bühnen an, tritt dann für einige Wochen als Entertainer auf einem Kreuzfahrtschiff auf. Sol Salinger, der Vater, will seinen schwebenden Sohn im Familienbetrieb unterbringen. Er schickt ihn nach Europa, wo er in Wien etwas über den Lebensmittelhandel lernen und seine Sprachkenntnisse verbessern soll. Bis kurz vor der Machtergreifung Hitlers im März 1938 ist Salinger in Wien.
Chaplin schnappt ihm das Mädchen weg
Zurück in den USA geht er erneut ans College, lässt aber keine besondere Zielstrebigkeit erkennen. Er schreibt am laufenden Band Short Stories und schickt sie quer durch die Staaten an Zeitschriften und Zeitungen. 1941 lernt er Oona O´Neill kennen, Tochter des bekannten Dramatikers. Salinger ist verliebt, schreibt der 17-Jährigen ellenlange, offenbar höchst originelle Briefe, sie aber lässt ihn bald für keinen Geringeren als Charlie Chaplin sitzen, dessen Ehefrau sie wird. Inzwischen sind die USA in den Krieg eingetreten, Salinger wird Soldat. Nach einem Jahr versucht er sogar, eine Offizierslaufbahn einzuschlagen. Schließlich landet er bei der Spionageabwehr. Ab Oktober 1943 wird er zum Special Agent ausgebildet und nach Großbritannien geschickt.
Während die Invasion bevorsteht, arbeitet Salinger an einer ersten Fassung des „Fänger im Roggen“. Am D-Day landet er mit dem 12. Infanterie-Regiment an der Küste der Normandie. Man muss nicht „Saving Private Ryan“ gesehen haben, um sich auszumalen, was das bedeutete. Körperlich überstand er den „längsten Tag“ unversehrt, seelisch hinterließen die Kriegserfahrungen jedoch tiefe Spuren, die bestimmend für Salingers Werk wurden, ohne dass er je unmittelbar über seine Fronterlebnisse schreiben sollte.
Sergeant X. – glücklicherweise schläfrig
In „Für Esmé – mit Liebe und Unrat“ ist der Erzähler ein junger amerikanischer Soldat, der im April 1944, einige Wochen also vor der Invasion, in einer Kleinstadt in Devon eines verregneten Abends in einer Teestube ein etwa dreizehn Jahre altes Mädchen kennen lernt. Sie führen einen jener wunderbaren, lebendigen, plastischen Dialoge zwischen den Generationen, von denen Salinger eine ganze Reihe verfasst hat, einer brillanter als der andere. Das Gespräch wird immer wieder unterbrochen von Esmés kleinem Bruder Charles, der allerlei Albernheiten anstellt, während die Gouvernante der beiden einige Tische entfernt sitzt. Der Erzähler „outet“ sich als bisher unveröffentlichter Schriftsteller und gegen Ende der Begegnung bittet ihn Esmé ihr eine seiner künftigen Erzählungen zu widmen. Diese solle viel Gefühl und Unrat enthalten. Zum Abschied sagt sie dann:
„Leben Sie wohl. Ich hoffe, dass Sie psychologisch intakt aus dem Krieg zurückkehren.“
Im zweiten Teil geht Götz auf Salingers Figuren, auf Kafka und Pynchon ein.