Kafka: Ein Roman seines Alltags (6)

„Ein Pfad in der unbekannten Welt“
Götz Kohlmann entdeckt Kafka neu
Sechster Teil

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Kafkas Briefe bieten einen teils minutiösen Einblick in seinen Alltag und zugleich sind sie der Roman dieses Alltags. Kafka inszeniert sich in ihnen nicht weniger als eine Kunstfigur und ist doch ganz bei sich selbst. Und er ist ganz in der Wirklichkeit, auf die er sich mit Komik, Selbstironie und lebendiger Genauigkeit unmittelbar einlässt, eine Wirklichkeit, die er in seinen Romanen und Erzählungen dann auf eine höhere, zeitlose, allgemeingültige Ebene hebt.

Dabei gibt es verblüffende Stellen in den Briefen, die zeigen wie sehr aus direktem Erleben selbst so scheinbar ganz und gar der Phantasie entsprungene Szenen wie etwa der Anfang des „Prozess“-Romans stammen.

Im Roman liegt Josef K. zu Beginn früh morgens noch im Bett und wartet auf die Köchin seiner Zimmervermieterin, die ihm sonst immer das Frühstück bringt. Zur Zeit der Niederschrift des Romans wohnte Kafka für einen guten Monat als Untermieter in einem Zimmer in der Prager Bilekgasse. An Felice schreibt er im März 1915:

„Das Zimmer habe ich schon gekündigt, es hat viel Entschlusskraft gekostet. Fast jeden Morgen ist die alte Frau zu meinem Bett gekommen und hat mir neue Verbesserungsvorschläge zugeflüstert, mit denen sie die Ruhe in der Wohnung noch vermehren wollte.“

Schon sind wir mit einem Fuß in der traumartigen, absurden Welt von Kafkas Roman. Dass es ihm im „Prozess“ wie auch Jahre später im „Schloss“ zuallererst einmal um die Darstellung seiner eigenen Existenz ging, belegen auch Tagebuchstellen wie diese vom 15. Oktober 1914:

„Vierzehn Tage gute Arbeit, zum Teil vollständiges Begreifen meiner Lage.“

Die Niederschrift des „Prozesses“ verläuft parallel zu den ersten Kriegsmonaten und sie fällt in die Zeit eines Bruchs in seiner Beziehung zu Felice. Im Juli 1914 war es im Hotel Askanischer Hof in Berlin zu einer Aussprache (zu einem „Gerichtshof“, so Kafka im Tagebuch) zwischen ihm und Felice gekommen, die in Begleitung ihrer Schwester und einer Freundin (mit der Kafka zuvor einige allzu ausführliche Briefe gewechselt hatte) erschienen war. Als Folge der Aussprache wurde die Verlobung gelöst. Nach dem Treffen hatte er noch Felices Eltern aufgesucht, um ihnen die Entscheidung mitzuteilen. Dazu heißt es im Tagebuch:

„Sie geben mir recht, es lässt sich nichts oder nicht viel gegen mich sagen. Teuflisch in aller Unschuld.“

Diese Selbsteinschätzung greift wortwörtlich auf die Erzählung „Das Urteil“ vom Jahr zuvor zurück, in der der alte Vater dem Sohn entgegenwirft:

„Ein unschuldiges Kind warst du ja eigentlich, aber noch eigentlicher warst du ein teuflischer Mensch!“

„Teuflisch in aller Unschuld“ – keine andere Formulierung trifft genauer das Wesen der „Briefe an Felice“. Als die Niederschrift des Romans in einer Krise ist, schreibt Kafka zum ersten Mal seit der Trennung vom Juli wieder einen langen Brief an Felice. Diese neuerliche Kontaktaufnahme kommentiert er am 30. November 1914 mit schonungslosem Blick auf seine Egomanie im Tagebuch:

„Ich kann nicht mehr weiterschreiben … möchte versuchen, für die Zwischenzeit wieder F. zu bekommen. Ich werde es auch wirklich versuchen, falls mich die Übelkeit vor mir selbst nicht daran hindert.“

Verstörende Stellen sind das, die man auf den ersten Blick kaum mit der Aufrichtigkeit in Einklang zu verbringen vermag, die doch Kafkas Wesen so auszeichnet. Aber auch aus dieser Stelle spricht ja seine Aufrichtigkeit und Felice gegenüber war er immer aufrichtig, gnadenlos, entsetzlich aufrichtig. Auch deshalb ließ sie sich ja auf diesen seltsamsten aller Verehrer ein. Und wir verdanken dieser um eine durchaus ehrliche Zuneigung und Hoffnung errichteten, egozentrischen Liebeskonstruktion geradezu magische Einblicke in Kafkas Leben und seine Zeit, Passagen von einer gegenwartsgesättigten Pracht, die seinen eigentlichen literarischen Texten gänzlich mangelt, ohne dass dies eine Kritik wäre, denn sie bieten – es muss nicht betont werden – zahllose andere Qualitäten auf, die nicht minder beeindruckend sind. Man möchte seitenlang zitieren. Nehmen wir also, bevor wir den Felice-Kosmos verlassen, Auszüge aus einem Brief vom 9.12.1912. Kafka ist gerade von einer Dienstreise zurückgekehrt:

„Was mich mit der Reise aussöhnt, ist einzig das, dass sie auch für die Anstalt nutzlos war, wenn es mich natürlich auch auf der andern Seite wieder kränkt. Schließlich ist die ganze Reise zu einem Verwandtenbesuch – ich habe in Leitmeritz Verwandte – zusammengeschrumpft, denn die Verhandlung, bei welcher ich die Anstalt vertreten sollte, ist vor drei Tagen auf unbestimmte Zeit verlegt worden, ohne dass – infolge eines Irrtums der Gerichtskanzlei – unsere Anstalt davon verständigt worden wäre.

Von dem aus gesehen bekommt es eine besondere Bedeutung wie ich da eiligst fast noch in der Nacht von zuhause abmarschiere, in einer feinen Kälte durch die Gassen wandere – vorbei am zwar schon beleuchteten, aber verhängten Frühstückszimmer des „Blauen Stern“, … – wie ich dann weiter diese Nachtfahrt in der Eisenbahn zwischen schlafenden Herrschaften mitmache, die zwar schlafen, aber immer noch genug irregeführten Bewusstseins haben, um aus dem Schlaf heraus die von mir auf „kalt“ immer wieder gestellte Heizung auf „warm“ immer wieder zurückdrehn und den überhitzten Raum weiter zu überhitzen, wie ich dann schließlich eine halbe Stunde lang in einer Landkutsche durch nebelige Alleen und mit Schnee bloß bestreute Felder oder Wiesen fahre – und immer unruhig, immer unruhig und wäre es auch nur über die Stumpfheit meines Blicks, mit dem ich das alles ansehe.

Dann bin ich endlich um acht Uhr morgens vor dem Geschäft meiner Verwandten in der Langen Gasse in Leitmeritz und genieße in dem noch aus der Kindheit her bekannten Kontor meines Onkels (eigentlich eines Stiefonkels, wenn es etwas Derartiges geben sollte) die Frische und unverdiente Überlegenheit, die von einem Reisenden ausgeht, der zu jemandem kommt, der eben erst aus dem Bett gekrochen ist und in Filzpantoffeln im kaum geöffneten kalten Laden vergebens sich zu erwärmen sucht. Dann kam die Tante (um genau zu sein, die Frau meines schon vor vielen Jahren verstorbenen wahren Onkels, die nach dessen Tode den Geschäftsführer, eben diesen Stiefonkel, geheiratet hat), eine jetzt kränkliche, aber noch immer sehr lebendige, kleine, runde, schreiende, händereibende, mir seit jeher angenehme Person.“

Ja, hier, in Kafkas Briefen, finden sich solche Satzkonstruktionen, die an seinen Zeitgenossen Proust erinnern, romanhafte Sätze, die es aber in seinen Romanen kaum gibt, die man aber auch in keinem Brief erwartet – es ist höchste Schreibkunst im Rahmen eines Privatbriefs. Kafka fährt weit hinaus aufs Land zu einem Gerichtstermin, der aber abgesagt wurde, ohne dass er davon verständigt worden wäre – wer denkt da nicht an die vergeblichen Mühen seiner Helden im „Prozess“ und im „Schloss“.

Mehr über Kafka und sein literarisches Arbeiten im nächsten Teil.
Ein Beitrag von Götz Kohlmann
Sprecher: Hendrik Schulthe und Thomas Laufersweiler

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