Prof. Pu empfiehlt: Atemschaukel von Herta Müller
[display_podcast]
Wie schreibt man eine Empfehlung, wenn einem die Worte fehlen? Und schon von allen so viel gesagt wurde zu diesem Buch? So viel Entsetzliches in so schönen Sätzen, ist mein Resümee zu Herta Müllers außergewöhnlichem Roman. Zusammen mit Oskar Pastior, diesem Lyrik-Schelm, wollte sie seine Erinnerungen an die fünf Jahre Zwangsarbeit im russischen Arbeitslager aufschreiben. Leider starb er 2006 ganz plötzlich und sie mußte das Werk alleine vollenden. Das machte mich am traurigsten bei der Lektüre – dass er diese Art von Wiedergutmachung nicht mehr erlebt hat. So jedenfalls empfinde ich die Auszeichnung des Buches mit dem Literatur-Nobelpreis 2009. Als eine ideelle Wiedergutmachung durch die Aufmerksamkeit, die man diesen Erinnerungen und damit den Schicksalen einer stummen Menge zuteil werden ließ.
Aus dem Nachwort:
„Als im Sommer 1944 die Rote Armee schon tief nach Rumänien vorgerückt war, wurde der faschistische Diktator Antonescu verhaftet und hingerichtet. Rumänien kapitulierte und erklärte dem bis dahin verbündeten Nazideutschland völlig überraschend den Krieg. Im Januar 1945 forderte der sowjetische General Vinogradov im Namen Stalins von der rumänischen Regierung alle in Rumänien lebenden Deutschen für den „Wiederaufbau“ der im Krieg zerstörten Sowjetunion. Alle Männer und Frauen im Alter zwischen 17 und 45 Jahren wurden zur Zwangsarbeit in sowjetische Arbeitslager deportiert.“
Auch Herta Müllers Mutter war dabei. Und der siebzehnjährige Oskar Pastior.
„Alles, was ich habe, trage ich bei mir.
Oder: Alles Meinige trage ich mit mir.
Getragen habe ich alles, was ich hatte. Das Meinige war es nicht. Es war entweder zweckentfremdet oder von jemand anderem. Der Schweinslederkoffer war vom Vater. Der städtische Mantel mit dem Samtbündchen am Hals vom Großvater. Die Pumphose von meinem Onkel Edwin. Die ledernen Wickelgamaschen vom Nachbarn, dem Herrn Carp. Die grünen Wollhandschuhe von meiner Fini-Tante. Nur der rote Seidenschal und das Necessaire waren das Meinige, Geschenke von den letzten Weihnachten.
Es war noch Krieg im Januar 1945. Im Schrecken, dass ich mitten im Winter wer weiß wohin zu den Russen muss, wollte mir jeder etwas geben, das vielleicht etwas nützt, wenn es schon nichts hilft. Weil nichts auf der Welt etwas half. Weil ich unabänderlich auf der Liste der Russen stand, hat mir jeder etwas gegeben und sich seinen Teil dabei gedacht. Und ich habe es genommen und mir gedacht mit meinen siebzehn Jahren, dass dieses Wegfahren zur rechten Zeit kommt. Es müsste nicht die Liste der Russen sein, aber wenn es nicht zu schlimm kommt, ist es für mich sogar gut. Ich wollte weg aus dem Fingerhut der kleinen Stadt, wo alle Steine Augen hatten. Statt Angst hatte ich diese verheimlichte Ungeduld.“
Er ist zu jung und zu sehr damit beschäftigt, seine Liebe zu Männern zu verbergen, als dass er sich der Verzweiflung anheimgibt. Er ahnt noch nicht, dass ihn der Satz seiner Grossmutter am Leben erhalten wird: „ICH WEISS DU KOMMST WIEDER“.
Was dann folgt, ist die Beschreibung der Zwangsarbeit in der Ukraine unter unvorstellbar harten und unmenschlichen Bedingungen. Aber immer in den poetischsten Worten. Allein wieviele Worte Herta Müller für die Hungerzustände findet, ist so schön, dass es einem das Herz zusammenschnürt und demütig macht. Wenn man als Phantasiebegabter nichts mehr hat als seine Gedanken, entstehen neue Worte. Hungerengel, Herzschaufel, Atemschaukel.
„Wenn ich nichts zu kochen hatte, ging ich in die Nähe der Töpfe und tat so, als würde ich mir vorm Schlafengehen am Brunnen die Zähne putzen. Doch bevor ich die Zahnbürste in den Mund steckte, aß ich zweimal. Mit dem Augenhunger aß ich das gelbe Feuer und mit dem Gaumenhunger den Rauch.“
So wie der Hungrige die Luft kaut, so las ich immer und immer wieder Textpassagen, die so eindringlich sind, dass sie mir noch lange nach der Lektüre im Kopf blieben. So wie er immer den Satz der Grossmutter mit sich trägt, war ich ganz in diesem Buch eingeschlossen. Am stärksten erschüttert aber hat mich, wie man in der Familie mit ihm umging, als er tatsächlich nach fünf harten Jahren zurückkehrt: Sprachlos. Niemand redet mit ihm, niemand will seine Erlebnisse hören. Als hinge ein Makel an ihm. Wenn sich Lager-Heimkehrer auf der Strasse begegnen, wechseln sie die Seite und grüßen sich kaum. Diese Sprachlosigkeit muss sehr geschmerzt haben. Vielleicht hat er deswegen noch Jahrzehnte später vom Lager geträumt. Weil es nicht aus ihm heraus durfte.
„Ich war eingesperrt in mich und aus mir herausgeworfen, ich gehörte nicht ihnen und fehlte mir.“
Ein überwältigendes Buch und ein wunderbares Denkmal für Oskar Pastior.
Herta Müller
Atemschaukel
Hanser € 19,90
978-3-446-23391-1