Nicole liest „Kürzere Tage“ von Anna-Katharina Hahn
Spießigkeit ist kein Vorrecht der Schwaben. Wer wollte das behaupten. In keiner anderen Stadt Deutschlands fühlt sie sich jedoch so zuhause wie in Stuttgart, durchdringt die, die hier wohnen, schmiert sich wie Leim an jene, die auszubrechen versuchen. Eine große Portion Muffigkeit vereint sich mit dem bisschen großer Welt und ganz viel Widerspruch zum Lebertran der Schwachen und Orientierungslosen.
Anna Katharina Hahn ummauert ihre Protagonisten in ihrem neuen Roman mit diesem Tran, packt sie ein in Watte und schützt sie doch nicht vor Verletzungen. In beklemmender Weise gibt ihnen ein scheinbar bürgerliches Leben Halt und erdrückt sie doch gleichermaßen.
Da ist zum einen Judith, die vor Jahren versucht hat, dem Anspruch an Perfektion durch Alkohol und Sex zu entkommen. Heute sucht sie für sich und ihre kleine Familie Zuflucht hinter Rudolf Steiners schwäbischer Waldorfpädagogik, schirmt sich ab vor der Realität draußen auf der Straße, verdrängt und ignoriert, immer wieder auch mit Beruhigungsmitteln.
Ihre Entscheidung für die Waldorf-Welt glich einer plötzlichen Erleuchtung, dem Übertritt in einen geistigen Orden. Ein Buch, ein dickleibiger Ratgeber zur Gesundheit und Erziehung, genügte, um sie zu überzeugen. Judith schaffte eine Wiege mit rosa Himmel, Stoffwindeln und ein Schaffell an, hängte Raffaels Madonna an die Wand und fing an zu stricken. Manches würde hart werden, keine Frage. Aber wenn sie sich an all die verheißungsvollen Vorgaben hielt, konnte sie gar nichts falsch machen.
Gefangen in äußeren und inneren Zwängen ist auch Leonie, Mutter zweier Töchter, Frau eines ehrgeizigen Aufsteigers und selbst berufstätig. Nie genügt sie, nicht den anderen, nicht sich selbst, versucht auszubrechen und scheitert an einer Affäre.
Auf der Constantinstraße ist kaum Verkehr. Leonie fährt langsam, am Zebrastreifen bremst sie. Auf dem Brunnen sitzt die schöne Nackte. Das letzte Tageslicht lässt die weißen Glieder auf dem grauen Granitsockel leuchten. Sie hat den Kopf gesenkt, als ob sie sich schämt. Wahrscheinlich hat sie auch etwas angestellt.
„Stuttgart im Schnee“, Gemälde von Sigrun Asmuth
Da sind die Posselts, das alte Ehepaar aus dem Erdgeschoss, ohne Kinder aber mit altersschwachem Hund und festen Ritualen – „montags gekochtes Rindfleisch mit Krensoß, dienstags Linsen mit Spätzle, Mittwoch Buchteln, Donnerstag Gaisburger Marsch …“ und da ist schließlich Marco, der Junge vom anderen Ende der Constantinstraße und der sozialen Skala, der vom Opfer zum Täter werden wird. Denn „seit Marco kein Mini-Marco mehr ist, merkt er, daß er etwas tun kann. Bestimmen, was Sache war, Zähne zeigen, Haare auf der Brust, Wut im Bauch“. Es ist die Constantinstraße, die sie alle beherbergt und die Lebenslinien jener Menschen locker miteinander verwebt.
„Kürzere Tage“ ist trotz aller Beklemmung, die aus jeder Seite auf den Lesenden herausströmt ein faszinierendes, ein fesselndes Buch. Mit dem nüchternen Blick auf die alltäglichsten Kleinigkeiten zieht es einen tief als stummen Zeugen in die Wohnungen von Leonie, Judith und den anderen. Liest man „Kürzere Tage“, will man nicht mehr aufhören, hat man es aber doch einmal zur Seite gelegt, möchte man eigentlich gar nicht so genau wissen, wie es weitergeht. Und doch, man kommt nicht los, angeleimt an die bittersüße schwäbische Spießigkeit.
Anna-Katharina Hahn
Kürzere Tage
Suhrkamp, 223 Seiten, gebunden. 19,80 €
ISBN: 978-3518420577