BIG IN JAPAN: SchönerDenken berichtet vom Filmfestival “Nippon Connection” und widmet auch sonst den ganzen April der japanischen Kultur. Darum wiederholen wir einen Beitrag von Hendrik, in dem er sich an den japanischen Regisseur Takashi Miike wendet:
Sehr geehrter Herr Takashi Miike,
Sie als japanischer Regisseur werden sicherlich überrascht sein, im Rahmen der „Briefe in die chinesische Gegenwart“ aus der Zustellertasche der schoener-denker ebenfalls ein Schreiben zu erhalten. Andererseits ist Ihr 1998 gedrehter Film The Bird People in China im ländlichen China angesiedelt, und er entführt uns dort in eine Azeitlichkeit, die man ganz bestimmt nur weit jenseits allen großstädtischen Weltereignistrubels (und durchaus gleichberechtigt damit) finden kann.
Der junge japanische Angestellte Wada wird im Auftrag seiner Firma in eine entlegene chinesische Provinz geschickt, um dort Jadevorkommen zu prüfen, obwohl er selbst gar keine Ahnung von Mineralen hat. Auf dem Weg dorthin begegnet er dem cholerischen Yakuza Ujiie, der behauptet, Wadas Firma schulde ihm Geld, das er nun von Wada einfordert. Ujiie heftet sich an Wadas Fersen, und gemeinsam machen sich die beiden einander verhassten Männer auf den Weg zu den Jademinen. Die mehrtägige Reise in zunehmend primitiven und skurrilen Fahrzeugen entpuppt sich als ein Weg, der nicht nur in räumlicher Hinsicht von allen Normen und Strukturen urbaner Zivilisation wegführt; ganz allmählich und ohne dass man so recht sagen könnte, wo der Anfang dieses Umschwunges liegt, dringen Wada und Uiije in eine Welt ein, die so selbstverständlich fernab aller Börsenkurse und U-Bahnhöfe existiert, dass auch die beiden Reisenden irgendwann nur noch kopfschüttelnd (oder, in Ujiies Fall, meistens laut fluchend) alles so nehmen können, wie es kommt.
Den letzten Teil ihrer Reise legen sie auf einem von Schildkröten gezogenen Floß zurück, und sie wissen zu diesem Zeitpunkt selbst nicht mehr, ob sie das für völlig verrückt halten sollen oder nicht. Wada ist unterwegs mehr und mehr fasziniert von einer Geschichte, die ihm immer wieder begegnet: Irgendwo am Ende ihrer Reise soll es ein Bergdorf geben, dessen Einwohner fliegen können. Und tatsächlich begegnen ihnen immer mehr Anzeichen dafür, dass die Geschichte wahr ist; so beobachten sie bei ihrer Ankunft, wie eine junge Lehrerin ihrer Klasse den ersten Flugunterricht erteilt …
Ich möchte Ihnen für Ihren Film danken. Aber verstanden habe ich ihn nicht. Glaube ich. Oder doch? Ich muss gestehen: Je unverständlicher er wurde, desto besser gefiel er mir, und ich rechne es Ihnen als große Leistung an, dass ich von meinem Nichtverstehen gar nicht frustriert war, wie es bei schlechten oder allzu gewollt anspruchsvollen Filmen oft der Fall ist. Die erste Häfte des Filmes – die Reise selbst – stellt in zum Teil recht komischer Weise Genreerwartungen in Frage – Ist das ein Actionfilm? Eine Komödie? Ein Fantasyfilm? Hier hat Ihnen sicherlich der Umstand geholfen, dass Ihre umfangreiche Filmographie Werke verschiedenster Machart umfasst, und so ist man als Zuschauer im wahrsten Sinne des Wortes mit seinen Erwartungen ebenfalls ins völlig Unbekannte unterwegs.
Beantwortet die zweite Hälfte des Filmes die Frage nach dem Genre? Wunderbarerweise nicht, außer im Wege des Ausschließens von vermuteten Antworten: kein Actionfilm, keine Komödie, keine Fantasy. Und das passt ganz punktgenau zu dem Gefühl der beiden Protagonisten, die an ihrem Ziel und doch an einem völlig anderen als dem erwarteten Ort angelangt sind. Auch der Zweck der Reise, die Suche nach den Jademinen, ist rasch vergessen, denn beide Männer sind mehr und mehr fasziniert von dem Gedanken an das Fliegen. Sie begreifen jeder auf seine eigene Weise, dass das Wegwerfen von städtischen Lebensnormen zwar einen Stabilitätsverlust mit sich bringt, aber auch zur Ruhe kommen lässt und Zeit schenkt für ein Wiederfinden der eigenen Mitte.
Warum Sie für diese Geschichte zwei Japaner gewählt und diese nach China haben reisen lassen, kann ich nicht beurteilen, denn die vielschichtigen Vorstellungen, die diese (zuweilen recht unwillig) verbrüderten Kulturen voneinander haben, sind für mich als Außenstehendem kaum nachvollziehbar: Vielleicht sind das urbane Japan und das provinzielle China einfach nur die grössten denkbaren Kontraste, die sich in diesem Rahmen für eine solche Geschichte denken lassen. Doch weil ich als Westeuropäer dem Dynamisch-Urbanen (wiederum zuweilen recht unwillig) näherstehe, kann ich Wada und Ujiie auf ihrer Reise begleiten, unterwegs meine schönbewährten Welt- (bzw. Film-)betrachtungsnormen einbüßen, um dann bei der Ankunft in der von Ihnen gezeigten, einfach zum Heulen schönen Berglandschaft offen zu sein für etwas völlig Neues.
Ich spüre, dass The Bird People in China eine Ebene enthält, die über allen kulturellen Differenzen und politischen Doktrinen steht (und damit ein bißchen rebellisch bleibt, denn keine politische Doktrin hat solche für sie ungreifbaren Ebenen besonders gern: Man kann dort keine Propagandaplakate aufhängen). Auf dieser Ebene ist die Zeit keine Sache der Uhren, sondern der persönlichen Schrittgeschwindigkeit. Das Fliegen ist dort eine Kunst, die nichts mit Aerodynamik, sondern mit dem Vertrauen in das eigene Vermögen zur Freiheit zu tun hat. Und für mich als dem Betrachter des Films ist es die Ebene, auf der ich mich löse von dem Gedanken, eine feste, von Ihnen womöglich ohnehin gar nicht strikt vorgegebene Deutung nachvollziehen zu wollen, sondern mich dem unbeschwerten Gleitflug der Assoziation überlasse. Wo mich das irgendwann hinträgt, kann ich hier sicherlich nicht schon nach einmaligem Betrachten sagen.
Es gibt Filme, die einem die Träume anderer vorführen. Es gibt Filme, die einen selbst dem Träumen näherbringen. Es gibt sogar Filmmomente, die einem für einen Moment Flügel verleihen. The The Bird People in China ist, für mich, jetzt und hier, kein solcher Film (und auch hier weiß ich noch nicht recht, woran das liegt). Aber beim Aufstehen nach dem Abspann habe ich doch den Boden für eine kurze Weile auf andere Art berührt.
Für dieses Gefühl möchte ich mich bei Ihnen bedanken.
Mit freundlichen Grüßen, Hendrik Schulthe
Dieser Beitrag erschien erstmals am 22. August 2008.