Nicole liest den neuen Montalbano von Andrea Camilleri: „Die Flügel der Sphinx: Commissario Montalbano sehnt sich nach der Leichtigkeit des Seins“
„Dottori, ich hab Sie doch nicht geweckt?“
„Nein, Catarè, ich war schon wach.“
„Ist das auch ganz wirklich wahr, Dottori? Sie sagen das nicht nur aus Höflichkeit?“
„Nein, mach dir keine Sorgen. Was gibt’s denn?“
Was soll’s schon geben, Dottori, wenn ich Sie so früh am Morgen anrufe?“
„Ist dir eigentlich klar, Catarè, dass du nie gute Nachrichten für mich hast, wenn du mich anrufst?“
Und so ist es auch dieses Mal. Eine junge Frau ist ermordet worden. Eine sehr schöne Frau vermutlich, doch ihr Gesicht wurde vollständig zerstört. Montalbano, Siziliens – ach was – Italiens bester Ermittler, macht sich auf die Spur der Täter. In gewohnter Mannschaftstärke, mit Mimi Augello, Fazio, Gallo, Galluzzo und Catarella. Und natürlich mit Pasquano, dem etwas anderen Pathologen:
„Ich sag Ihnen was, heute morgen qualmen mir die Eier“, war die freundliche Begrüßung von Dottor Pasquano. Montalbano blieb ungerührt und antwortete im gleichen Ton. Pasquano war nur dann umgänglich, wenn man ihm Paroli bieten konnte.
„Wollen Sie wissen, was mit meinen ist? Dampflok, sag ich nur.“
Pasquanos Informationen bringen den Commissario nicht wesentlich weiter. Lange Zeit tappt der Held aus Andrea Camilleris Krimireihe im Dunkeln. Motzig wie gewohnt, hungrig wie eh und je und mit der bekannten Portion sizilianischer Schlitzohrigkeit. Die braucht er auch, denn neben dem Mörder der jungen Frau muss Montalbano auch noch nach einem Entführten suchen. Und dessen Lebendigkeit steht dank der poetischen Wortgewalt Catarellas, des leicht zurückgebliebenen und dabei so liebenswerten Mitarbeiters im Kommissariat, einen kurzen Moment in Frage.
„Aber wieso hast du dann gesagt, Picarella wäre tot?“
„Das hab ich doch gar nicht!“
„Ja, was denn?! Dottor Montalbano hat doch schließlich auch gehört, dass du gesagt hast, Picarella wäre in ein besseres Leben eingegangen!“
„Ah, ja! Natürlich habe ich das gesagt!“
„Aber wieso hast du das gesagt?“
„Stimmt es denn etwa nicht? Vorher, als er entführt war, hatte er doch ein schlechteres Leben, während er jetzt, wo er frei ist, in ein besseres Leben eingegangen ist.“
„Diesen Catarella werde ich eines Tages noch erschießen, das schwöre ich“; sagte Fazio und brach das Gespräch ab. „Aber den Gnadenschuss, den verpasse ich ihm“, sagte Montalbano.
Aber der Mordfall hat Vorrang – Montalbano kommt einer dubiosen Organisation auf die Schliche, die jungen Frauen vornehmlich aus Osteuropa angeblich aus der Prostitution und auf einen gottesfürchtigen Weg helfen will. Und dabei sticht er in ein Wespennest, denn der Organisation nahe stehen auch große Tiere aus Politik und Gesellschaft. Doch Montalbano wäre nicht Montalbano, würde ihn das von der Suche nach den Tätern abhalten.
Camilleris Held ist also an allen Fronten gefordert, und das nicht nur beruflich. Auch in der Beziehung zu seiner langjährigen Freundin Livia steht es nicht zum Besten. Da braucht es mehr als einen Montalbano, um alle Probleme zu lösen.
Sämtliche kleinen Vertiefungen der Klippen glitzerten noch vom Regenwasser. Wenn er sich hingesetzt hätte, wäre sein Hosenboden zu einem großen dunklen nassen Fleck geworden. So blieb er unentschlossen stehen.
„Handle, wie Livia dir raten würde“, sagte Montalbano Nummer eins.
„Handle ganz nach deinem Kopf“, sagte Montalbano Nummer zwei.
Montalbano setzte sich auf die Klippe.
„Hat er das gemacht, um Livia zu ärgern?“, fragte Montalbano Nummer eins.
„Ganz sicher“, antwortete Montalbano Nummer zwei.
„Wie sollte er sie damit ärgern? Es wäre ärgerlicher für Livia, wenn sie hier wäre, aber so …“, sagte Montalbano Nummer eins.
„Ist doch völlig egal, ob Livia da ist oder nicht“, entgegnete Montalbano Nummer zwei. „Hier zählt nur das, was man konkret tut.“
„Erlaubt ihr mir, dass ich mal ein Wort sage?“ fragte Montalbano an diesem Punkt. „Das einzige Konkrete ist, dass meine Hose jetzt klatschnass ist.“
Ein neuer Montalbano-Krimi, ein neues Verbrechen, gewohnt packend erzählt – Camilleri büßt auch im hohen Alter kein Jota seines Könnens ein. Im Gegenteil: Der Genuss seiner Bücher ist wie der eines guten Weines, im Alter wird er immer besser. Das einzige, das man diesem Buch vorwerfen kann, ist, dass es zu kurz ist. Viel zu kurz. Wie alle seine Vorgänger liest es sich wie im Rausch. Kaum hat man angefangen und sich beim Umblättern einmal gespannt über die Lippen geleckt, schon ist es wieder vorbei mit dem Vergügen. Leider.
Andrea Camilleri
Die Flügel der Sphinx: Commissario Montalbano sehnt sich nach der Leichtigkeit des Seins
Luebbe, 270 Seiten, gebunden, 19,99 €
ISBN 978-3785723784