Die Koliken von Erdsee

Hendrik empfiehlt die Umbenennung von Gedo Senki – Chroniken von Erdsee von Goro Miyazaki

Naja, ich gebe es zu: der Film hatte auch keine echte Chance bei mir. Ich bin kein großer Freund von Trickfilmen (schon gar nicht der fernöstlichen Sorte) und ein sehr großer Freund der Literaturvorlage, und damit startete diese Produktion bei mir bereits mit zwei schweren Handicaps. Und so musste ich vielleicht zu diesem Ergebnis gelangen: <Die Chroniken von Erdsee> von Goro Miyazaki anzuschauen, ist die wohl ununterhaltsamste Art, die Lektüre der <Erdsee>-Romane von U.K. Le Guin zu vermeiden, die ich mir denken kann. Woran liegt das?

Da ich ja kein Trickfilmfreund bin, bin ich auch nicht unbedingt ein Kenner dieser Materie. Aber im Vergleich zu einigen anderen der mir dann doch bekannten Filmen (u.a. z.B. <Das Königreich der Katzen>) scheint mir <Die Chroniken von Erdsee> (hergestellt im Jahre 2006) in punkto Originalität der Bildsprache schonmal sehr hinter den Möglichkeiten seiner Entstehungszeit zurückzubleiben, trotz der Bewerbung mit dem in Genrekreisen legendären Familiennamen des Regisseurs (immerhin steht der Name des Vaters Hayao Miyazaki für Animationsklassiker wie <Prinzessin Mononoke> und <Das Wandelnde Schloss>).

Mit dem Auge des neugierigen Nichtkenners vermag zumindest ich der Farbgestaltung der gezeigten Umgebungen fast keine und den (kaum vorhandenen) Feinheiten der Gesichtszüge und Bewegungen der Figuren gar keine wesentlichen Verbesserungen gegenüber dem zu entnehmen, was Mitte der 80er schon über TV-Bildschirme flackerte. Die Figuren werden keine Charaktere und bleiben Schablonen mit digital eingeklebten Mund- und Augenemoticons. Damit ist eine der wesentlichen Ebenen jeder Erzählung – nämlich der Erzählstil, im Film eben vor allem durch die Bildführung definiert – bereits ein extrem schwacher Abklatsch der Literaturvorlage.

Um so wichtiger wäre es, eine interessante Geschichte zu erzählen. In der Literaturvorlage gibt es gleich mehrere Ebenen, die man dazu hätte heranziehen können. Da ist natürlich zunächst das Schicksal der Hauptfiguren, allen voran die des Prinzen Arren, der im Film zunächst seinen Vater tötet (was kurzerhand nie erklärt wird) und sich dann dem wortkargen Magier Sperber anschließt. Teile dieser Geschichte kennt man tatsächlich aus Buch 3 (<Das ferne Ufer> [The Farthest Shore]) der Erdsee-Reihe, wenngleich sie holzschnittartig vergröbert, teilweise völlig verfälscht und zugleich um alle interessanten Feinheiten bereinigt werden.

Die folgenden Ereignisse des Filmes bedienen sich zwar erkennbar der Literaturvorlage, aber sie lassen keinerlei Bestrebungen erkennen, die Quelle auch nur halbwegs adäquat und plausibel zu übersetzen. Statt dessen werden recht wahllos herausgeschnippelte Versatzstücke in einen neu konstruierten Handlungsstrang eingebaut, der zuletzt auf das übliche Böser-Zauberer-gegen-Guter-Zauberlehrling-Gerangel inkl. Dämliche-Schergen-Des-Bösen- und Magisches-Schwert-Fantasyfertigzutaten hinausläuft (was ebenfalls mit der Vorlage nicht viel zu tun hat) und mit der tänzerischen Eleganz und Geschlossenheit der Schöpfung Le Guins schlicht dramaturgische Lebendfledderei betreibt.

Mit der zweiten Ebene – der Geschichte hinter der Geschichte – der Erdsee-Fiktion verfährt Miyazaki jun. ähnlich, und der magische Anker der ganzen Fiktion (die Einheit von Namen und Wesen) wird in wenigen beiläufigen Sätzen verheizt und in die Handlung nur ansatzweise eingebunden. Weder wird erzählt, wie diese Magie funktioniert, noch welchen Preis sie hat, und das Ergebnis ist ungefähr so nachvollziehbar und reizvoll wie die Audioübertragung eines Schachspiels unter Weglassung des Kommentators. Infolgedessen sind die im Rahmen des Spielfilms gezeigten Elemente der Handlung damit auch nicht verknüpft, werden willkürlich und damit trivial: Der Schatten, der Arren verfolgt, ist eine Übernahme aus Geds (Sperbers) eigener Geschichte aus Band 1 (<Der Magier von Erdsee> [A Wizard of Earthsea]), wird aber ohnehin nur kurz mal gezeigt und verschwindet flugs wieder ohne Erklärung. Das Schicksal der Drachen, gleich zu Beginn als Einstiegshighlight verbraten, wird mit der Geschichte überhaupt gar nicht erst verknüpft. Der uralte Magier Cob, der sich der Grundbedingung der Endlichkeit jedes Lebens widersetzt und damit zum Feind des Lebens werden muss, stammt dann wieder aus Band 3 des Zyklus, <Das ferne Ufer> [The Farthest Shore] und wird ebenso völlig willkürlich zur Zauberin. Die Freundin Sperbers – Tenar – wird aus Band 4 <Tehanu> [Tehanu] entnommen (was man ohne Kenntnis der Vorgeschichte auch wieder nur hinnehmen kann), und ihr Schützling, das scheue Mädchen Theru, gerät zu einer Art melancholischer Japanheidi inkl. nervtötendem Gesang. Und so fort. Das ist nicht der Versuch – wie es in anderen Rezensionen hieß – , „zuviel an Geschichte hineinzupacken“, das ist schlicht eine Bankrotterklärung der Übersetzerkompetenz gegenüber, die der Verfilmer einer Literaturvorlage besitzen muss.

Alles in allem hätte man sich einfach besser alle Bezüge zu den Erdseebüchern ganz gespart und die ganze Produktion das sein lassen, was sie im Grunde auch ist, nämlich Fernsehfantasystandardware. Als solche wäre sie völlig akzeptabel gewesen, und ich hätte sie mir niemals angeschaut. Aber wer sich einen großen Namen auf das Etikett pinselt, muss damit rechnen, mit dem Maßstab dieser Vorlage gemessen zu werden, und hierbei schneiden „Die Chroniken von Erdsee“ noch um einiges schlechter ab als der seinerzeit ähnlich gerügte erste „Herr der Ringe“-Verfilmungsversuch in Zeichentrickform, der immerhin Ende der 70er noch die Ausrede begrenzterer technischer Möglichkeiten hatte.

Wer jemals die Buchvorlage aufgrund ihrer Qualitäten (interessante Geschichte, schöner Stil, weise Philosophie) lieben gelernt hat, dem kann ich nur dringlichst raten, von diesem Machwerk die Augen zu lassen, denn die traumwandlerische Wortmagie der Erzählerin Le Guin wird bei Nachwuchsanimateur Goro Miyazaki zu etwas „wehenartige Schmerzen und krampfhafte Kontraktionen“ (so die Wikipedia-Definition einer Kolik) Verursachendem. Daher plädiere ich zur Vermeidung jedweder Gleichsetzung mit den Büchern für eine Umbenennung (siehe Überschrift) des Films und empfehle uneingeschränkt die Romane, denn sie zählen schlicht zur besten Fantasy des vergangenen Jahrhunderts .

Die ersten drei Bände,

o1. „Der Magier der Erdsee“,

02. „Die Gräber von Atuan“,

03. „Das ferne Ufer“

erschienen bereits Ende der 60er Jahre und können als in sich geschlossene Trilogie gesehen werden:

In Band 1 wird die Lebensgeschichte des Jungen Ged erzählt, der in ärmlichen Verhältnissen in einem Bergdorf auf einem unwichtigen Eiland des Inselarchipels der Erdsee heranwächst, bis sich eines Tages herausstellt, dass er große magische Gaben besitzt. Der Roman erzählt die Geschichte seiner Lehre – und seines Kampfes gegen den von ihm selbst geschaffenen Schatten, eines bösen alter ego, das ihn verfolgt.

Band 2 erzählt die Geschichte des Mädchens Tenar, die als Wiedergeburt der Hohepriesterin eines uralten Tempelkultes angesehen und als Kind gezwungen wird, als „Arha die Verzehrte“ ihre vorbestimmte Wächterrolle in den Ruinen des Kultes zu übernehmen. Eines Tages wird sie plötzlich verantwortlich für das Schicksal eines jungen Mannes, der sich im unterirdischen Labyrinth der Anlage verirrt hat. Dabei handelt es sich um den Magier Ged, auch genannt Sperber…

Band 3 erzählt die Geschichte des nun zum Erzmagier ernannten Sperbers, der mit einem jungen Prinzen namens Arren (der keineswegs seinen Vater getötet hat, wie Miyazaki berichtet – sollte sich sein Senior Sorgen machen?) auszieht, um sich einer Bedrohung zu stellen, nämlich des Verschwindens der Magie in ganz Erdsee…

Zugleich wird in den Büchern – wie es in allen guten Büchern der Fall ist – auch eine Vielzahl anderer Geschichten erzählt: die Geschichte der großen Drachen, die Historie der Magier und die tiefere Wahrheit über die Wortmagie, welche Herz und Seele der Welt Erdsee ist, und für die Le Guin die Wurzeln in den Gedanken des Taoismus fand. Diese Handlungen werden Sie im Film garantiert nicht wiederfinden.

Erst fast 20 Jahre später kehrte Le Guin mit den Bänden

04. „Tehanu“,

05. „Rückkehr nach Erdsee“ und

06. „Vermächtnis von Erdsee“

wieder zu ihrer Fantasywelt zurück und setzte sie würdig fort, ohne den zeitlosen Geniestreich ihrer drei Frühwerke zu wiederholen.

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