Die menschliche Gier

Ein Kommentar von Christopher über Verträge und Verantwortung
In diesen Tagen macht uns eine Meldung besonders nachdenklich. Doch bevor wir uns in das Reich der menschlichen Gier begeben, lassen Sie uns über Shakespeare reden. Shakespeare ist in diesen dramatischen Tagen, in denen die Großen wanken und die Kleinen leiden überaus aktuell geworden. Für den einen eher Komödie, für den anderen Tragödie – unsere Zeiten lassen nur wenige unberührt.

Shakespeare hatte, obwohl schon einige Jahrhunderte tot, für solche Momente menschlicher Irrungen und Wirrungen ein feines Gespür. Seine Protagonisten leiden nicht selten an Selbstüberschätzung, erliegen dem Wahn angenommener Allmacht oder glauben schlicht im Recht zu sein, wo das Gegenteil der Fall ist. In Zeiten des Börsencrash und der Kreditklemme drängt sich da zum Beispiel ein Vergleich mit dem Kaufmann von Venedig auf.

Zweifellos erinnern Sie sich an diesen wagemutigen Christenmenschen, der durch den Mangel an Venture Capital – weniger neudeutsch Risikokapital, in die Fänge des jüdischen Geldverleihers Shylock getrieben wurde. Für alle, die Opfer jener sommerlichen Grippeepedemien geworden sind, die man am besten im Freibädern oder Eiscafes behandelt, sei hier noch mal der Sachstand in Kürze dargebracht. Konsequenz dieser asymmetrischen Geschäftsbeziehungen, wir lassen den religiösen Aspekt dabei großzügig unter den Tisch fallen, ist ein ebensolches Vertragswerk. Der, modern gesprochen, geschlossene Kreditvertrag zwischen den beiden ging zu Lasten des treuen Kaufmanns, der im Falle der Säumnis ein Pfund seines Fleisches an den Geldgeber abzutreten hatte.

Wie zu erwarten kam der Kaufmann in die Bredouille, da seine Schiffe nicht zur rechten Zeit den rettenden Hafen erreichten. Der sich ebenso rechtskundige wie schlau wähnende Shylock forderte Genugtung – und scheiterte. Das Recht als Form der gesellschaftlichen Willensbildung siegte über die buchstabengetreue Auslegung des Vertrags. In diesen Tagen drängt sich, nahezu zwingend, eine Analogie zu diesem rechtsphilosophischen Lehrstück auf.

Lassen wir kurz den Blick in jene Gegenden schweifen, die im glücklichen, da regulierten Europa gemeinhin als „Wilder Westen“ verschrieen sind. Ja genau, wir reden über die USA. In diesen, von den Eingeborenen als „Gods own Country beschriebenen Zonen ungehemmten Kapitalismus, wiederholt sich, was wir eben schilderten. Der erfolgreiche, weil (noch) nicht gescheiterte Fondsmanager Andrew Hall  pocht gegenüber der Citygroup auf Vertragserfüllung. Streitwert einhundert Millionen Dollar. Erstaunlich, werden Sie sagen, bedenkt man, dass eben selbige Bank noch vor wenigen Wochen dem nahen Ende entgegen sah und nur durch das Geld des amerikanischen Steuerzahlers gerettet werden konnte. Geld trotz „leerer“ Kassen? Boni vom Staat? Sie rollen die Augen angesichts solcher Chuzpe? Ja aber ebenso stünde es doch geschrieben, beteuert Hall mit fast mephistophelischer Treuherzigkeit und besteht auf Vertragserfüllung.

Gerne wird da einem von interessierter Seite der weithin bekannte Rechtssatz PACTA SUNT SERVANDA als Begründung nachgereicht. Verträge sind heilig, oder anders herum gesagt, was geschrieben steht, gilt. Allerdings wird dabei allzu schnell vergessen, was auch Shylock schmerzhaft lernen musste: Recht, um als Gerechtigkeit empfunden zu werden, bedarf ethischer Maßstäben. Wie alles andere auch ist Recht damit dem Wandel unterworfen. Kein noch so formvollendeter Vertrag ersetzt die gesellschaftliche Wirklichkeit. Das römische Recht hat diesem Umstand mit der  CLAUSULA REBUS SIC STANTIBUS Rechnung getragen. Sie besagt, dass eine Abmachung bei geänderten Verhältnissen von den Vertragsparteien neu ausgelegt werden kann. Verträge dienen also nicht nur dem Interessenausgleich – sie sind auch an die Umstände gebunden unter denen sie zustande gekommen sind.

Eine ebenso praktische wie weise Regelung, Recht ist eine komplizierte Sache, die durch die Anwendung des gesundem Menschenverstands nicht einfacher wird. Andrew Hall wird wohl trotzdem, in Anbedracht seiner lobenswerten Leistungen eine ebenso geldwerte Anerkennung einfordern. Er wird vor Gericht ziehen, einen Vergleich aushandeln und … die Vorurteile gegenüber seinem Berufsstand nähren. Wie dem auch sei, wir wünschen allen Beteiligten Shakespearesche Weisheit und die dazu gehörende Einsicht in die Vergänglichkeit alles Irdischen. Beglückwünschen wollen wir allerdings von dieser Stelle aus schon einmal die beauftragten Rechtsanwälte, die angesichts dieses erfreulichen Streitwertes, bereits jetzt als die eigentlichen Gewinner des Rechtsstreits feststehen dürften.

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