Ein Bonbon mit bitterem Beigeschmack

Carina hat Lob, aber noch mehr Abneigung für Shane Jones Roman „Thaddeus und der Februar“ übrig und erklärt, warum.

Ein Mythos um „Thaddeus und der Februar“ eilte seinem Erscheinungstermin in Deutschland voraus. Kritiker vergleichen Shane Jones Fantasie mit der von Italo Calvino oder Lewis Carroll. Das klang vielversprechend und ich war gespannt, dieses vermeintlich „moderne“ Märchen zu lesen. Mein Urteil fällt jedoch anders aus. Zunächst war ich vom wilden und kreativen Schreibstil des Autors begeistert. Jones Erzählweise zieht seine Leserschaft direkt in die Geschichte hinein. Ich fand die surreale – wenn auch traurige – Traumwelt einfach schön, dann fand ich sie unheimlich schön, doch irgendwann leider nur noch unheimlich, und zwar unheimlich sexistisch.

Zwischen Traurigkeit, Ohnmacht und Widerstand
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Zur Handlung: Eine Stadt ist von einer ungewöhnlichen Plage befallen: Seit hunderten von Tagen dauert der kalte Februar an. Der Wechsel der Jahreszeiten ist außer Kraft gesetzt und es fällt ununterbrochen Schnee. Niemand weiß, warum das so ist. Ballons dürfen nicht mehr zum Himmel aufsteigen, finstere Priester patrouillieren, Kinder verschwinden im Wald und die ganze Stadt ist durchdrungen von einer unfassbaren Resignation und Traurigkeit. Kinder fangen an den Eulen die Hälse umzudrehen und Priester zerhacken mit großen Äxten die Körbe der Ballons und reißen aus den Schulbüchern Bilder von Fluggeräten oder Vögeln. Die Art und Weise, wie der Autor seine Leserschaft in den Bann dieser Traurigkeit mit hineinzieht, ist tatsächlich faszinierend. Thaddeus Sehnsucht nach dem Frühling ist nahezu ansteckend:

„Erinnert euch, wie es war, als die Bäche vor dem Schlafzimmerfenster rauschten und das Wasser über die Augustfelsen strömte, als die Vögel auf grünen Zweigen sangen und die Hunde in den Feldern heulten … Wisst ihr noch, wie es war, als ihr am Morgen aufwachtet und die Sonnenstrahlen übers Bett und die bloßen Füße wanderten?“ (S. 49)

Der Wunsch nach Widerstand wird immer stärker. Eines Tages erklärt die ganze Stadt dem Februar den Krieg. Thaddeus, der Ballonfahrer, soll ihr Anführer sein. Auf unterschiedliche Weise versuchen die Menschen den Februar zu vertreiben: So gießen sie große Mengen heißes Wasser auf den Schnee, versuchen mit langen Stangen Löcher in die Wolken zu reißen oder ignorieren die Kälte:

„Caldor Clemens tut so, als würde er Beeren pflücken. Er wischt sich den Schweiß von der Stirn, bevor er in eine Schneewehe taucht und zu schwimmen beginnt. Thaddeus und Selah entfernen sich von der Gruppe und lieben sich im nackten Schnee. Sie ermuntern sich gegenseitig an den Ozean zu denken, dessen Wellen ihre Zehen umspielen …“ (S. 45)

Der Februar

Mit der Zeit stellt sich heraus, dass der Februar keine Naturgewalt, sondern ein junger Mann ist, der am Stadtrand lebt und die Geschichte der Stadt schreibt. Als Autor ist er der Herrscher über die Stadt und entscheidet, was mit ihr passiert. Der Februar leidet an Depressionen und Fantasielosigkeit, weshalb er die Bewohner mit Plagen überhäuft. Trotzdem behauptet er:

„Ich bin kein schlechter Mensch. Ich habe mich am Juni, Juli und August erfreut wie jeder andere auch … Ich bin durcheinander, dass es fast schon beruhigend ist. Ich bin schuld an der Entführung von Kindern … Ich möchte gut sein, aber ich bin es nicht.“ (S. 60)

Eines Tages entführt der Februar auch Thaddeus und Selahs Tochter Bianca. Er nimmt sie als einzige von den entführten Kindern mit zu sich und behandelt sie wie seine Frau. Er lässt sich von ihr Tee kochen und Schmorbraten zubereiten . Bianca hat Mitleid mit dem Februar, der von seiner eigenen Geschichte überfordert ist. Sie beginnt sie umzuschreiben und schafft eine neue Stadt mit Sonnenschein, blühenden Feldern und Gärten.

Bianca liebt den Februar und wünscht sich, mit ihm in Frieden leben zu können. Zwar hat sie manchmal auch Zweifel, weil sie sich eigentlich einen Mann wünscht, der auf sein Äußeres achtet, ordentlich verdient und sich männlich verhält, dennoch verteidigt sie ihn gegenüber ihrem Vater. Dieses ambivalente Verhältnis zieht sich bis zum Ende durch.  Thaddeus durchschaut schließlich, dass der Februar einfach schlecht ist und tötet ihn.

Tatsächlich ist der Februar nicht durchgehend bösartig. Seine letzten Worte lauten:

„Ich wollte eine Geschichte über das Zaubern erzählen … Ich wollte, dass Ballons euch gen Himmel tragen. Es wurde nichts als Traurigkeit daraus. Unglück und Krieg. Ihr habt ihn nie gesehen, aber in mir blühte ein schöner Garten.“ (S. 169)

Als er dann stirbt, quillen Blumen aus seinem Rücken. Thaddeus kehrt zurück in die Stadt und Bianca bleibt allein im Haus des Februars. Sie schenkt der Stadt zwei gelbe Sonnen mit den Aufschriften Juni und Juli. Vom Himmel kommen Babys in die Stadt, in der nie wieder Februar sein wird.

Ich fasse nochmal zusammen:

Es ist die Liebe eines Mannes zu einem Mächen: Das Alter dieses Mädchen wird nicht genannt. Aber sie ist klein, wird anfangs von Thaddeus auf seinen Schultern getragen und auch am Ende des Buchs ist noch die Rede von einem Mädchen, nicht von einer jungen Frau. Bianca wird entführt und verliebt sich in ihren Kidnapper. Sie ist ein Paradebeispiel für das Stockholm-Syndrom.

Es ist eine Welt der Männer: In „Thaddeus und der Februar“ sind es in erster Linie die Männer, die sich dem Februar in Kampf stellen, es sind Thaddeus und der Februar, die um die Macht über die Stadt kämpfen. Zugleich ist es das Mädchen Bianca, dass von Mitleid für den Februar und die Stadt durchdrungen ist, dass sich dazu berufen fühlt zu schlichten und zu kitten.

Um die Klischeevorstellungen über Frauen und Männer zu vervollständigen: Dieses Mädchen bleibt eine Marionette ihrer Gefühle und kann sich vom Februar trotz seiner Grausamkeit nicht abwenden. Somit ist es ihr rationaler Vater, der die Welt letztlich in Ordnung bringen muss, indem er den Februar tötet, der nicht anders kann, als schlecht zu sein. Bianca bleibt stattdessen isoliert zurück und beschert der Stadt den Nachwuchs.

Sexismus verpackt in ein brilliantes Märchen …

In „Thaddeus und der Februar“ werden die Grenzen zwischen Fiktion und Realität mehrfach überschritten. Ähnlich wie in „Alice im Wunderland“ wird die Erwartungshaltung des Lesers an die Figuren und den Handlungsverlauf regelmäßig gebrochen. Mal wohnt der Februar etwa am Rande der Stadt, mal im Keller seiner Eltern, mal in zwei Öffnungen im Himmel, mal ist er der Februar und dann doch nur ein Hausbauer. Durch diese unzuverlässige Erzählweise wird der Leser selbst Teil dieser formbaren Traumwelt. An einer Stelle spricht Bianca ihn sogar direkt an:

„Du bist einer von den Guten. Du bist sanft und gefühlvoll und erfüllt von Glück. Du gehst sorglos durch die Jahreszeit des Februars, schauderst vielleicht kurz oder seufzt, weil der Himmel so grau ist, ein Grau, das bald den Blumen Platz machen wird, die du um den Briefkasten gepflanzt hast.“ (S. 109)

Das Surreale torpediert sich gegen Ende: Tote erwachen wieder zum Leben, Kinder fallen vom Himmel und aus ihren Mündern wachsen große weiße Blumen.

Was meine Begeisterung für die magische Erzählweise und Fantasie massiv getrübt hat, sind die archetypischen, klischeehaften und diskriminierenden Vorstellungen von Geschlechterrollen, in die die Handlung eingebettet ist. Mehr noch: Ich habe von Seite zu Seite mehr Unbehagen verspürt. Eine Geschichte von einem Kindesentführer, dessen Opfer sich in ihn verliebt und das verpackt in eine sprachlich und erzähltechnisch geniale Geschichte, das schmeckt wie ein bitteres Bonbon und

… ist trotzdem geschmacklos

So wie der Februar willkürlich über die Stadt herrscht, herrscht Shane Jones willkürlich über die gesamte Geschichte. Er packt sie randvoll mit psychoanalytischen Anspielungen, doch am Ende fehlt die therapeutische Auflösung. Zwar wird das Verhalten des Februars gesühnt, aber jenseits seiner Verbrechen an der Stadt wird die Entführung des Mädchens und die pädophile Liebesgeschichte nicht als Verbrechen gekennzeichnet.

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Shane Jones

Ehrlich gesagt, hätte ich von einem Autor, der dieses Jahr 30 Jahre alt wird, etwas anderes erwartet. Tatsächlich war ich gegen Ende des Buchs enttäuscht. „Thadddeus und der Februar“ ist zwar aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Hinsicht eine lesenswerte, aber keine lobenswerte Lektüre. Das gilt allerdings auch für das grausame Märchen „König Blaubart“ von den Brüdern Grimm.

Shane Jones „Thaddeus der Februar“ erschien Anfang Februar 2010 im Eichborn Verlag (ISBN 978-8218-6107-4) , hat 176 Seiten und kostet 16.95 €.

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