Für alle, denen es im Geschichtsunterrichtnicht bunt genug zuging

Hendrik liest Das Geheimnis der Farben von Victoria Finlay

Wenn ein Mensch aus einem früheren Zeitalter – sagen wir: der Spätantike – einen Sprung in unser Jahrtausend machen könnte, dann wäre es durchaus möglich, dass in seinen Augen eines der verblüffendsten Wunder der Menschheit der Gegenwart in jeder x-beliebigen Boutique und an jeder Hauswand zu finden wäre: bunte Farbe.

Die Kulturfähigkeit, praktisch jede beliebige Farbnuance produzieren zu können, ist eine jener zivilisatorischen Errungenschaften, die uns so sehr umgeben, dass wir sie kaum je bewusst wahrnehmen. Kaum je denken wir daran, dass es Farben gibt, deren Herstellung einst sorgsam gehütetes Staatsgeheimnis war, oder andere, deren einzige bekannte Quelle auf der anderen Seite des Erdballs lag, so dass nur wenige Menschen überhaupt je etwas in dieser Farbe besitzen konnten. Es gibt Farben, die man erst seit relativ kurzer Zeit mittels industrieller Techniken so herstellen kann, dass sie weder denjenigen zu töten drohen, der sich mit ihnen umgibt, noch sich innerhalb kurzer Zeit in etwas völlig anderes verwandeln. Und es gibt tatsächlich Farben, die in der Natur gar nicht vorkommen und vom Menschen erst erfunden werden mussten.

Die britische Buch- und Journalautorin Victoria Finlay hat sich über Jahre hinweg damit beschäftigt, welche Geschichte eigentlich hinter dem Phänomen Farbe steckt. Um die ganze Welt ist sie gereist, um alten Handelswegen zu folgen oder Mythen, die mit dem Thema Farbe zu tun haben, auf den Grund zu gehen. Da Farbe ein allgegenwärtiges Element ist, berührt Finlays Darstellung dabei eine Vielzahl von Kulturbereichen: von der Kunsthistorie zur Geschichte der Chemie, von der Wirtschaftsgeschichte hin zu Ethnologie und Mythologie.

Ihr Kapitel über Ocker, des – soweit wir wissen – ältesten bewusst für Höhlenwände und Hautbemalungen benutzten bunten Farbmaterials, führt sie z.B. nach Australien, wo sie unweigerlich der Aborigines-Kosmologie begegnet und dem Punkt, wo Abbild und Original, Traum und Realität noch nebeneinander stehen: Ocker ist eine Erdfarbe, und wer das Bild eines Ortes mit dem dort vorkommenden speziellen Ocker malt, der macht aus dem Bild selbst einen Teil des abgebildeten Ortes.

Ihre Geschichte des bis heute aus dem Blut von Koschenilleläusen hergestellten Spanisch- oder Karminrot führt sie in der Zeit zurück in das von Spanien kolonialisierte Mittelamerika, für die Auffindung der Quellen des Lapislazuli reist sie in politisch unruhiger Gegenwart nach Afghanistan. Die Suche nach den Quellen des Orange führt sie nach Italien, Grün ins chinesische Mittelalter (außerdem in Napoleon Buonapartes Schlafzimmer) – und so fort. Selbst das Kapitel über die Nichtfarbe Schwarz ist mit dem Stichwort Kohle nur begonnen.

Auch über einige der berühmtesten Vertreter der Kunstgeschichte erfährt man Interessantes: warum die ehrwürdigsten Gestalten auf Michelangelos unvollendetem ‚Grablegung Christi‘ so merkwürdig unattraktiv gewandet sind, warum kaum ein Bild William Turners auch nur eine Woche nach seiner Fertigstellung noch so aussah, wie er es gemalt hatte, oder warum James Whistler während der Arbeit an seinen berühmten Portraits weißgekleideter Frauen selbst reichlich blass um die Nase gewesen sein dürfte.

Natürlich kann man ein so allumfassendes Thema wie eine Kulturgeschichte der Farben nicht erschöpfend in einem Buch abhandeln; Finlays Herangehensweise ist eher die, den Leser auf ihre Erkundungstouren mitzunehmen, ihn zum Zeugen ihrer Spurensuche werden zu lassen – das ergibt zuletzt kein repräsentatives Wissen über das Thema, aber jede Menge farbenfrohe und sehr kurzweilig zu lesende Fakten, Anekdoten und spannende Zusammenhänge:

Spanischrot, so notierte ich an jenem Abend in meinem Tagebuch, entsteht gewöhnlich im nebligen Herbst kurz vor Beginn der Frostperiode in Gegenden, wo Land billig ist und Feigenkakteen, auf denen sich die Schildläuse als Parasiten ansiedeln, im Überfluss im Wüstensand wachsen. Es ist eine heilige Plage, eine edle Fäule, deren Lohn nicht das Gold des Dessertweins, sondern das Rot des Rubins ist. Es ist ein dunkles, farbintensives organisches Rot, aber es wird niemals für die Gewänder buddhistischer Mönche benutzt, weil es zuviel Tod enthält. Im einundzwanzigsten Jahrhundert bemalen Frauen auf der ganzen Welt ihre Lippen mit Insektenblut, wir pudern für jeden sichtbar unsere Wangen damit, und in den Vereinigten Staaten ist Spanischrot einer der wenigen erlaubten Rotbestandteile des Lidschattens. Und schließlich – schrieb ich mit einem wohligen Schauder – ist es reichlich in Cherrycoke enthalten: als Farbzusatz E 120.

All denen, die in sich den Rest einer Ungewißheit darüber verspüren, ob nicht doch die kindliche Vorstellung zutrifft, vor der Erfindung des Farbfernsehers sei irgendwie die ganze Welt nur schwarzweiss gewesen, dem sei die kulturgeschichtliche Reportage Das Geheimnis der Farben zur angeregten Lektüre empfohlen. Nur den FreundInnen von Cherrycoke vielleicht eher nicht.

Victoria Finlay
Das Geheimnis der Farben. Eine Kulturgeschichte
7. Auflage 2007
List Taschenbuch
978-3-548-60496-1
9.95 Euro

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