Es ist kalt, Regen, Schnee, Sturm. Denken wir an etwas ganz anderes, an den Frühsommer in Gomera. PJ mit einigen idyllischen und weniger idyllischen Gedanken zur Kanareninsel.
Foto: PJ Klein
Wann immer in den zurückliegenden zwei oder drei Jahrzehnten der Gedanke ans „Aussteigen“ durch den Kopf deutscher Etablierter spukte, spukte oft der Begriff „La Gomera“ gleich hinterher – eventuell löste er sogar den Aussteiger-Gedanken aus. Die Insel vor der afrikanischen Küste auf der Höhe der Sahara, Teil der Kanarischen Inseln, aber bei weitem nicht so touristisch erschlossen, einsame Täler, schroffe Berghänge, Nebelwald, Höhlen, in denen Hippies hausen und es sich bei ganzjährig milden Temperaturen recht gut gehen lassen. Und dieses Flair schwingt heute noch mit. Immer noch hat La Gomera keinen internationalen Flughafen, immer noch dauert es rund 90 Auto-Minuten ins Valle Gran Rey, dem frühen Ziel der Aussteiger.
Wer mit Wehmut die 60er/70er Jahre zurücksehnt, in denen man auf dem Schaltknüppel nur die Nummern 1 bis 4 als Vorwärtsgänge abgebildet sah, der ist auf Gomera genau richtig: Hier kommt man nie in den 5. Gang, es sei denn, man läßt bei den langen kurvigen Abfahrten das Kupplungspedal durchgedrückt und legt (sozusagen leer) mal den 5. ein – aber das ist reine Theorie, zum Fahren in dieser höchsten Stufe kommt es nie, dazu sind die Straßen zu kurvig und zu steil. Aber – sehr gut ausgebaut. Und Fotografier-Punkte sind vorab mit einem entsprechenden Schild angekündigt.
Valle Gran Rey – Tal des großen Königs, weil vor der Eroberung durch die Spanier der größte Stammesführer der Guanchen hier herrschte. Klingt irgendwie nach Nobelkurort, nach adliger Freizeitgestaltung, Wellness und ein wenig Schickeria.
Valle Gran Rey/Foto: PJ Klein
Dies alles sollte der Reisende nicht erwarten. Das Valle Gran Rey wurde zwar schon recht früh besiedelt, aber nur im oberen, fruchtbaren und bewässerbaren Teil. Das heutige Zentrum La Playa (Der Strand) wurde nur gelegentlich angesteuert. Im Obertal bauten die Einheimischen (Nachfahren der Spanier, etliche vermischt mit Guanchen) Gemüse an, hielten Schafe oder Ziegen und schöpften aus den Palmtrieben eventuell Palmhonig. In La Playa entstand erst in den 80er Jahren ein gewisser Tourismus, der von den Hippies vorbereitet wurde. Wie so oft: Der Backpacker ist der Vorreiter des Massentourismus. Nur daß in diesem Fall wegen der schlechten Anbindung nennenswerte Massen nicht nach La Gomera strömen konnten – siehe oben.
Was erwartet den Reisenden heute? Zuerst mal eine ausgeprägte deutsche Urlaubsatmosphäre. Die meisten Menschen in den Restaurants, Geschäften etc. sprechen Deutsch oder Englisch. Wer hier her kommt, um sein Spanisch zu vertiefen, liegt völlig falsch. So reduziert sich das Spanisch-Repertoire auf Hola! und Hasta Luego! Verstärkt wird die Deutschland-Connection durch die Präsenz deutscher Zeitungen von „Bild“ bis „Die Zeit“, vom Internet nicht zu reden. Hier spürt man wenig von der spanischen Lebhaftigkeit, hier geht es ruhig, fast friedhofsstill zu – trotz der Menschenmassen, die hier flanieren und essen. Denn der Deutsche vollzieht hier eine ernsthafte Aufgabe: Er macht Urlaub.
So sitzt man an der Seafront von La Playa und schaut auf den vulkanisch-schwarzen Strand, an dem sich Todesmutige in die 18 Grad kühlen Wellen stürzen. Der Kellner fragt „Drinkk?!“ und man beobachtet die wenigen seltsam gewandeten „Hippies“, die an das alternative Flair vergangener Zeiten erinnern. Eine Lebenskunst, die so lange funktioniert, wie man keine ernsthafte Erkrankung ärztlich versorgen muß … Die Reste dieser Kultur manifestieren sich in der Schweinebucht abseits des Valle Gran Rey und in einigen abgelegenen Orten wie den Barancos (Trockentälern), wo noch einzelne ihr Domizil aufgeschlagen haben.
Hippie-Bett in einem trockenen Flussbett/Foto: PJ Klein
Hier wird eben jede Form von „Lebens-Stil“ toleriert. Für die meisten ist das alternative Leben offensichtlich mittlerweile zu einem Leben ohne Alternative geworden.
Am Abend flackert dann das verbliebene Leben vor der Bar Maria auf: Eine Traube von Menschen steht dort auf der Straße vor der Bar, trinkt Flaschenbier und redet, redet, redet – und am Strand steht eine Gruppe von Trommlern, die den Sonnenuntergang begleitet. Dazwischen weht gelegentlich der Duft von Haschisch. Oft zeigen Flammenjongleure in der Dämmerung ihre Künste und in der Menge bieten alle möglichen Menschen ihre Dienste an. Und so kann man problemlos an einem Abend einen Massagetermin machen, sogar sich direkt massieren lassen oder einen Didgeridoo-Kurs buchen, der problemlos zu einem Schnarchprävention-Programm ausgeweitet werden kann. Dies alles selbstverständlich in deutscher Sprache. Die Residenten, wie sie sich nennen und die durchaus wissen, daß sie ein wenig skurril sind, pflegen diese Skurrilität und sie wissen, daß sich hier ihr Markt auf etwa 200 Ufermetern zusammenballt und daß hier ihre Chancen liegen, etwas Geld zu verdienen.
Ab 21.00 Uhr wird es dann folkloristisch, dann spielt der einheimische Musiker vor der Bar Maria bis 23:00 Uhr – endlich mal was bodenständiges!
Ansonsten ist La Gomera international, das sieht man und das hört man vor allem auf der Strandpromenade und in den Geschäften. In unserer Ferienwohnung wird es besonders deutlich: Die Gläser sind von IKEA (made in Russia), die Bestecke made in China, die Einbauküchenelemente sind ebenfalls von IKEA, der Verputz ist ein spezielles Verfahren aus Nordafrika und wurde aufgebracht von Polen, die seit 13 Jahren hier leben. Die Besitzerin ist Deutsche, gelernte Schmuckdesignerin, die ihre Entwürfe in Sri Lanka umsetzen läßt. Von dort stammen auch die Buddha-Statuen, die überall in der Anlage verteilt sind. Hier kann eben jeder seinen Stil entwickeln und wenn er nur tägliches, neues Überleben bedeutet.
Bereits 1988 beschrieb Hans Magnus Enzensberger den deutsche Trend zum Mittelmaß („Mittelmaß und Wahn“ im gleichnamigen Band – Gesammelte Zerstreuungen):
„An Stelle der Eigenbrötler und der Dorfidioten, der Käuze und der Sonderlinge ist der durchschnittliche Abweichler getreten, der unter Millionen seinesgleichen gar nicht mehr auffällt. Am besten läßt sich diese abnorme Normalität in den Urlaubsexklaven der Republik studieren, auf jenen Atlantikinseln, die zu Sozial-Laboratorien der west-deutschen Gesellschaft geworden sind. Diese befreiten Gebiete, allen voran Teneriffa und die Kanarischen Inseln, dienen als Reinkulturen des triumphierenden Mittelmaßes. Ungestört von Zwängen der Produktion, jenseits von Fabrik und Büro, können sich in diesen Freizeitreservaten Surferkolonien und Seniorenburgen, Zweit- und Drittresidenzen und -religionen entfalten. Sie sind der vollmöblierte Menschheitstraum, idealisierte Modelle der Republik, die nicht nur eine komplette Medienlandschaft vom Strickheft bis zur National-Zeitung, vom Videoladen bis zur Schwulenpostille alles bieten, sondern ein Sammelsurium aller Wunderlichkeiten von der Karate-Klinik bis zum Masochisten-Seminar.“
Wie wahr! Doch neben diesen menschlichen, allzu-menschlichen Ausprägungen wartet La Gomera mit einer grandiosen Natur auf, die gerade im Frühjahr unzählige, vielfarbige Blüten und vielstimmigen Vogelgesang zu bieten hat. Wer gerne in der Natur unterwegs ist und massive, höhenbedingte Temperaturunterschiede nicht scheut, der findet auf der Guanchen-Insel garantiert hochinteressante Ziele. Er sollte auch windfest sein, denn auf La Gomera weht es irgendwo fast immer. Aber über die Natur und die Wandermöglichkeiten auf La Gomera ist schon viel geschrieben worden. Das will ich hier nicht multiplizieren. Fazit: Gomera wird wohl etwas überschätzt; es ist wohl so wie mit dem lokalen Wein dieser Insel: Die einen trinken ihn mit heroisch-patriotisch evoziertem Genuß, die anderen schütteln sich …
Foto: PJ Klein