Tausendundein Film. Götz bringt uns besondere Filme nah – tausendundeinmal. Und pünktlich zu Alfred Hitchcocks 111. Geburtstag startete Götz seine neue Serie mit Hitchcocks „Suspicion“ (Verdacht). Heute geht es weiter mit dem zweiten von vier Teilen:
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Nun aber endlich zu dem Werk, das ich ins Zentrum dieser Betrachtung rücken möchte. Hitchcocks unübertrefflicher Sinn für die Möglichkeiten des Kinos entfaltet in „Suspicion“ („Verdacht“) seine größte Wirkung.
Der Film erzählt, wie ein Bruder Leichtfuß, der dem so genannten Ernst des Lebens aus dem Weg geht, von diesem Ernst in einem solchen Maße eingeholt wird, dass er sogar mit dem Gedanken spielt, sich das Leben zu nehmen. Anfangs fährt er ohne Fahrkarte Zug und weiß sich, als der Schaffner kommt, nach dem Motto „Frechheit siegt“ erfolgreich zu behaupten, am Ende des Films wird er des Mordes und der Absicht zu einem weiteren Mord verdächtigt.
Cary Grant ist dieser sorglose Filou, ein Playboy, der sich mit Stil und Charme, aber ohne Geld in feinsten britischen Kreisen bewegt, in den Tag hinein und auf großem Fuß lebt und sich in ein „Mauerblümchen“ verliebt. Damit beginnt der Film. Joan Fontaine ist Lina, eine scheue, etwas linkische junge Frau, die wohlbehütet im Landhaus ihrer Eltern lebt und für die Johnnie Aysgarth (Grant) alles das verkörpert, was in ihrem Leben bisher fehlte. Entsprechend rasch erliegt sie seinem forschen Werben.
Der Film spielt geschickt mit den Vorurteilen des Zuschauers, der gegenüber Johnnie von Beginn an jenes Misstrauen hegt, das wie ein schleichend wirkendes Gift nach und nach Linas Liebe zersetzt und in Angst verwandelt. Denn der Film erzählt konsequent aus Linas Sicht, wir erleben alles mit ihrer Wahrnehmung. Wie die Macht der Eltern, vor allem des autoritären Vaters, der in Johnnie von Beginn an den Mitgiftjäger sah, in Linas Empfinden fortwirkt, sie nie frei werden lässt, das ist der Subtext des Dramas. Denn gegen den Willen des Vaters hat Lina Johnnie heimlich geheiratet.
Erst nach den Flitterwochen erfährt sie, dass Johnnie keinen Penny Geld besitzt. Das Geld für die Flitterwochen hatte er sich geliehen. Das Haus nebst Dienstmädchen – ebenfalls alles auf Pump. Verfügt Johnnie über Geld so verspielt er es sogleich an der Pferderennbahn. „Mutziputzi. Ich habe noch nie im Leben Geld gehabt“, gesteht er einmal ganz offen und heiter-unverfroren seiner Lina ein. Aber dennoch – Johnnie liebt Lina wirklich.
Grants finsterem, augenfunkelnden Spiel und Joan Fontaines zunächst müde-amüsiert-nachsichtiger, später ängstlich-zweifelnder Mimik zu folgen, das allein macht den Film zum Genuss. Grant taucht manchmal lautlos und bedrohlich auf, steht einfach da, so wie die gruslige Mrs. Danvers im fast gleichzeitig gedrehten „Rebecca“.
Die Ironie von Hitchcocks Erzählung ist: Lina untergräbt mit ihren Verdächtigungen die Liebe der beiden viel mehr als Johnnie mit seinem losen Lebenswandel. Und er wird immer dann giftig zu ihr, wenn er spürt, dass sie ihm misstraut.
Sie wird nämlich mehr und mehr von ihrer Einbildungskraft überwältigt. Sie malt sich aus, dass Johnnie seinen Freund Beaky ermorden will. Beide planen zusammen ein Immobiliengeschäft, bei dem Beaky als Geldgeber fungieren soll. Das zufällig beim Scrabble von Lina gelegte Wort „Murder“, das Foto einer Steilküste, die Information, dass Johnnie am folgenden Morgen mit Beaky dorthin fahren will und vor Linas innerem Auge taucht eine Mordszene auf, eine Vorstellung, die sie nicht mehr loslässt. Sie fährt am nächsten Tag allein hinaus an die Küste.
Dann wird ihre Angst von Hitchcock in großartiger Weise als Einbildung entlarvt. Lina kommt nach Hause, betritt das Haus, alles still, düster, sie hört ein Pfeifen. Langsam nähert sie sich der Wohnzimmertür und findet die Freunde in Eintracht, sorglos, voller Muße vor. Sie wollen gerade einen Plattenspieler in Gang bringen. Jede Bewegung der Schauspieler stimmt, wie Lina in ihrem Wahn, der sich langsam lichtet wie ein Nebel, als erwache sie aus einer Betäubung, den Raum betritt, überwältigt von ihrer Erleichterung, wie Grant sich kurz und arglos von dem Hocker vor dem Plattenspieler erhebt, um Lina zu begrüßen. Er steht nicht auf, lupft nur kurz den Hintern vom Sitz. Der Panik Linas, die aus der Gegenwart in ihre Schreckensphantasien gefallen ist, korrespondiert die vollkommene Gegenwärtigkeit von Johnnie. Das sind die nur scheinbar nebensächlichen, tatsächlich aber wichtigen Details, die Hitchcocks Filme auszeichnen, ihre Wahrhaftigkeit ausmachen.
Johnnie verliert im Laufe des Films seine Leichtfüßigkeit, Lina ihre Naivität. Zu Beginn des Films sind sie beide in ihrer Art noch Kinder, Johnnie fühlt sich für nichts verantwortlich, agiert wie ein Lausbub und betrachtet das Leben als Spiel, Lina lebt noch im warmen, behaglichen Nest der Eltern, beherrscht von deren sanft manipulierender Autorität und die Eltern glauben schon nicht mehr, dass Lina einen Mann finden wird. Lina liest bei der ersten Begegnung mit Johnnie im Zug in einem Buch mit dem bezeichnenden Titel „Psychologie des Kindes“. Fragt man also, was diese beiden scheinbar so unterschiedlichen Menschen verbindet, so ist die Antwort: ihre kindliche Unschuld. Im Lauf der Handlung werden sie sich dessen bewusst, was Schuld im Leben ist, die Selbstreflexion gewinnt Macht über sie. Am Ende wird angedeutet, dass beide zu sich selbst zurückgefunden haben und erwachsener geworden sein könnten. Lina fleht im dramatischen Finale Johnnie an: sie sei blind gewesen und habe nur an sich selbst gedacht und nicht an ihn. Sie sollten in ihrer Ehe doch einen Neuanfang machen. Er zweifelt, ob dies gelingen wird.
Hitchcock hatte wohl einen anderen Ausgang beabsichtigt: Lina trinkt die „vergiftete“ Milch, die Johnnie ihr bringt, schreibt aber zuvor noch einen Brief an ihre Mutter, in dem sie ihren Mann als Mörder entlarvt. Die letzte Einstellung sollte zeigen, wie Johnnie zum Briefkasten geht und den Brief einwirft, der ihn überführen wird. So stellte es Hitchcock jedenfalls in dem berühmten Gespräch mit Francois Truffaut dar. Daran anknüpfend wurde auch von Filmkritikern der Schluss immer wieder als schwach bewertet. Doch es ist der einzig Richtige. Denn der Film baut darauf auf, dass Lina von Ängsten überwältigt wird, die sich als unbegründet erweisen.
Bis zuletzt sucht sie nach Signalen, die ihr Johnnies Unschuld beweisen (so bemerkt man ihre Erleichterung, als eine befreundete Kriminalschriftstellerin sagt, Johnnie könne keiner Fliege etwas zuleide tun, doch wir, schon infiziert von Linas Vorstellungswelt, denken, aber was weiß eine Krimischriftstellerin schon, wer in der Realität zu einem Mord fähig ist – Hitchcock freut sich diebisch daran, so mit uns zu spielen). Die Imagination ist immer wieder stärker und bezwingt Lina mal um mal (und so kommt es nach der Heimkehr vom Abendessen bei der Freundin zum Streit, als sie Johnnie aus dem gemeinsamen Schlafzimmer weist und ihn bittet, auf der Couch zu schlafen). Der Verdacht Linas, den auch der Zuschauer teilt, trägt den Spannungsbogen des Films. Der Verdacht darf sich aber nicht bestätigen. Wäre Johnnie tatsächlich ein Verbrecher, würde dies die Geschichte völlig entwerten, banalisieren.
Die Produzenten im alten Hollywood waren keine Dummköpfe und sie haben ihre genialen Regisseure manchmal vor Missgriffen bewahrt. Zwar ging es ihnen hier wohl nur darum, dass sie dem Publikum Cary Grant nicht als Mörder zumuten wollten, doch es ist auch die einzig plausible Konsequenz aus Grants Rollencharakter, dass er zwar ein zwielichtiger Hallodri ist, aber zu wirklich Bösem nicht fähig. Hitchcock war vielleicht nicht ganz dieser Ansicht und umging das Problem, indem er alles noch ein wenig in der Schwebe ließ. Der Knackpunkt ist, ob in dem Glas vergiftete Milch ist oder nicht – letztlich wird das nicht geklärt. Johnnie sagt, er habe sich nach einem effektiven Gift erkundigt, weil er sich umbringen wollte – und wir müssen ihm glauben, so wie Lina ihm dies glaubt.
Die Milchglas-Szene, die optisch klar aus dem übrigen Film heraus sticht, zeigt einen realen Vorgang, der aber zugleich Linas Phantasie ist, von ihr dramatisiert wird. Nur sie (und wir) sehen das Glas Milch (in das Hitchcock eine Taschenlampe hatte legen lassen) so stark leuchten. Der Aufbau der Sequenz macht das ganz deutlich. Es ist reines Kino der Subjektivität, der Identifikation von Betrachter und Heldin. Wir sehen Lina im Bett liegend, angstvoll lauschend und schauend und dann – Schnitt – im Erdgeschoss öffnet sich eine Tür, ein Streifen Licht fällt ins Treppenhaus und wir sehen Johnnie, der mit dem leuchtenden Glas auf dem Tablett die Treppe hinauf geht, an der Wand ein Schattengitter, visueller Hinweis auf das Gefängnis, in das sich diese beiden Menschen manövriert haben.
Der nächste Teil (und damit der dritte von vieren) erscheint hier am 5. September 2010.