Tausendundein Film. Götz bringt uns besondere Filme nah – tausendundeinmal. Und pünktlich zu Alfred Hitchcocks 111. Geburtstag startete Götz seine neue Serie mit Hitchcocks „Suspicion“ (Verdacht). Heute geht es weiter mit dem dritten von vier Teilen:
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Immer leben Hitchcocks Filme von dem, was sie zeigen, und erst in zweiter Linie vom Dialog. Der Stummfilm hatte ihn geprägt und er hat dessen Schule nie vergessen.
Als der Nazi Sebastian (Claude Rains) in „Berüchtigt“ („Notorious“) wie ein betröppelter Schuljunge an seiner Mutter Bett sitzt und ihr gestehen muss, dass er eine amerikanische Spionin geheiratet hat, lässt diese ein Feuerzeug aufschnappen wie ein Klappmesser; und noch bevor beide darüber sprechen, dass sie Alicia (Ingrid Bergman) nun ermorden müssen, machen diese Geste und die Art, in der sich die Mutter eine Zigarette zwischen die schmalen Lippen steckt, klar, dass Alicia fortan in tödlicher Gefahr ist.
Und selbst aus dem vergleichsweise Dialog-lastigen „Verdacht“ muss man gar nicht das berühmte Glas Milch mit der Lampe anführen, sondern fände in fast jeder anderen Szene Beispiele dafür, wie Hitchcocks Filme ohne Worte funktionieren, wie viel er auch der Mimik, den Blicken der von ihm geführten Schauspieler und dem Aufbau der Bilder überlässt. Immer erzählen die Bilder schon alles Entscheidende und die Tonspur dient nur der Bekräftigung oder fügt dem Gezeigten noch die Qualität eines brillanten, geistreichen Dialogs hinzu.
Im Interview mit Truffaut sagte Hitchcock, die in England gedrehten Filme seines Werks seien zu leichtgewichtig inszeniert, die amerikanischen oft zu schwerfällig, eine richtige Beobachtung, wobei ich mich oft für die leichte, geradezu kindlich sich mit den Möglichkeiten des Kinos austobende Art der englischen Filme Hitchcocks mehr zu begeistern vermag als etwa für die allbekannten Klassiker wie „Das Fenster zum Hof“, „Psycho“ oder „Die Vögel“, denen bei aller unbestreitbarer Meisterschaft jener naive, experimentelle Touch und die formale Eleganz fehlen, die das Merkmal der englischen Filme sind.
Sie verbinden märchenhafte Elemente mit Wirklichkeitssinn, während das Hollywood-Werk – vor allem in den konservativen fünfziger Jahren – sich manchmal nicht ganz von den Klischees und den Standards der Studio-Ästhetik zu befreien vermag. Mit anderen Worten: eine gewisse Amateurhaftigkeit der britischen Produktionen kam dem künstlerischen Enthusiasmus und der erfindungsreichen Phantasie Hitchcocks im Grunde mehr entgegen, als die hohe Professionalität Hollywoods. In England sei er ein begabter Amateur gewesen, in Hollywood ein Profi, so Hitchcock selbst. Doch haben die englischen Filme eine Frische, die den amerikanischen mitunter fehlt.
Ich mag mich nicht allzu oft den düsteren Sujets von „Psycho“ oder „Die Vögel“ aussetzen, während ich mich an „Die Neununddreißig Stufen“ nicht satt sehen kann. Hitchcocks englische Ära, das ist der Regisseur als kleiner Junge, der spielt, der mehr Ideen hat, als in einen Film passen, der Attraktion an Attraktion reiht und dem Zuschauer einfach ein Heidenvergnügen bereiten will. Der Geist dieser Filme atmet dann gerade auch dort, wo sie stümperhaft und unbeholfen erscheinen, etwa wenn Miniaturmodelle verwendet werden, die wie Spielzeuge wirken.
Gerade in den oftmals komödiantisch angelegten Mann-und-Frau-Szenen zeigt sich Hitchcock schon ganz auf der Höhe seiner Kunst. Einmalig subtil und vieldeutig etwa die Erotik jener Sequenz in „Die 39 Stufen“, in der das unfreiwillig mit Handschellen aneinander gekettete Paar die Nacht in einem Landgasthaus verbringen muss, wo es sich als Liebespaar ausgibt. Madeleine Carrol, die sich gegen dieses täuschende Spiel wehrt, will ihre im schottischen Regen nass gewordenen Nylon-Strümpfe ausziehen, die abzustreifen ihr allerdings nicht leicht fällt, da an ihrer einen Hand ja diejenige Robert Donats hängt und beim Abstreifen der Strümpfe an ihrem Bein mit hinab gleitet.
Und was die Action angeht, so vermögen alle Emmerich-Katastrophen und Spielberg-Achterbahnfahrten nicht das Finale von „Number Seventeen“ von 1932 zu toppen, in der ein außer Kontrolle geratener Zug (eine Modelleisenbahn) auf eine Fähre am Hafen von Dover zurast. Robert Donat als Richard Hannay taumelt in „ Die 39 Stufen“ von einer bedrohlichen oder kuriosen Verwicklung in die nächste, dabei nie seine Haltung des Understatements zu den Katastrophen, die ihn heimsuchen, verlierend.
Das geht dann so: Hannah entwischt wieder einmal der Polizei, springt aus einem Fenster, mischt sich unter eine vorbeimarschierende Straßenkapelle, flieht in einen Hausflur, wo er von einer Frau mit den Worten begrüßt wird: „Da sind sie ja endlich, Sir. Wir warten schon alle auf sie.“ Man schiebt ihn auf das Podium einer aufgeregten politischen Veranstaltung, wo er als Hauptredner des Abends dem Publikum vorgestellt wird. Der Film besteht quasi nur aus Höhepunkten, und durchgehend paart Hitchcock Spannung und Humor wie es ihm selbst kaum ein zweites Mal so gelungen ist, vielleicht nur noch im „Unsichtbaren Dritten“, der die Hollywood-Variante der „39 Stufen“ darstellt, großartiger, spektakulärer, perfekter zwar (die berühmte Flugzeugattacke auf Cary Grant mitten im leeren Niemandsland des Mittleren Westens sei nur erwähnt), aber doch ohne den zauberhaften Charme des früheren Films.
In Hitchcocks Werk verliert sich im Laufe der amerikanischen Jahre mehr und mehr ein heiterer, europäisch-humanistischer Geist, der die Welt noch immer irgendwo und irgendwie gut sein lässt. In Hollywood scheint sein Blick auf die Welt immer schwärzer, kälter, negativer zu werden; Hitchcock löst sich von seinen Wurzeln, verweigert sich aber auch dem Idealismus Amerikas. Die Zwielichtigkeit einzelner Figuren wird dann in manchen Filmen zur Fragwürdigkeit der ganzen Welt. In „Der falsche Mann“ wird der zu Unrecht des Mordes verdächtigte Musiker Manny Balestrero (Henry Fonda zeigt in dieser Rolle eine Meisterleistung in schauspielerischem Minimalismus) zwar erlöst, und Hitchcock suggeriert, es geschehe durch göttliche Gnade, doch er bricht diese Reminiszenz an einen christlich geordneten Kosmos wieder, indem er die von Vera Miles gespielte Ehefrau Fondas in eine schwere, vielleicht unheilbare Depression verfallen lässt.
Auch „Der falsche Mann“ erzählt die Geschichte einer Liebe, einer Ehe, er erzählt, wie diese Ehe durch eine brutale Wirklichkeit zerstört wird. Es ist erschütternd zu sehen, wie hier zwei sensible Menschen, die nichts als ein kleines gemeinsames Glück im Leben wollen, von den Umständen gebrochen werden. Die „crime-story“ wird vom Alltagsdrama zunehmend überlagert. Der Regisseur Tom Tykwer betont in einem Essay zu „Der falsche Mann“ zu Recht, dass es kein Manko des Films ist, dem psychischen Verfall der von Vera Miles gespielten Ehefrau so viel Raum zu gewähren. Er ist nämlich der Kern des Films.
Tatsächlich lässt sich dieser Film auch als Krankengeschichte lesen. Schon früh, noch bevor Manny unter den falschen Verdacht gerät, macht uns Hitchcock auf die Lebensängste von Mannys Frau Rose aufmerksam, und es ist vollkommen klar, dass ihre folgende Entwicklung sich auch ganz ohne die äußere Einwirkung des erzählten Kriminalfalls vollziehen könnte, der in dieser Hinsicht von Hitchcock als Metapher genutzt wird, um eine letztlich unfassbare Ursache greifbar zu machen. Hitchcock zeichnet den Charakter von Rose so sorgfältig, dass sie als Heldin des Films vollkommen auf einer Ebene mit Manny steht. Durch einen unglücklichen Zufall gerät Manny in die Mechanismen der Justiz, ein glücklicher Zufall (oder Gnade) rettet ihn. Nichts vermag ihm aber zu helfen gegen die von der Depression verdüsterte Vorstellungswelt seiner Frau – da ist er völlig machtlos.
Die perfekte Beherrschung des Genres und vor allem seine Kenntnisse darüber, wie man die Kinogänger führt und manipuliert, machen zwar einen großen Teil seiner Kunst aus, doch ohne die weiteren Dimensionen, die er seinen Filmen gab, hätte „Hitch“ längst nicht diesen Status in der Filmgeschichte erreicht. Denn beim zweiten Sehen hat sich der Suspense-Aspekt im Grunde ja schon erschöpft, und doch mag man diese Filme wieder und wieder schauen, weil man erst beim wiederholten Sehen, da man nicht mehr von den Spannungselementen so sehr abgelenkt wird, die eigentlichen Geschichten entdeckt – und die haben oft sehr viel mit jenem „Stück Leben“ zu tun, das Hitchcock angeblich gar nicht interessierte, weil das ja die Leute um die Ecke hätten, bei sich zuhause, auf der Straße und daher nicht im Kino zu erleben bräuchten.
Der vierte und letzte Teil erscheint hier am 19. September 2010.