“Ein Pfad in der unbekannten Welt”
Götz entdeckt Kafka neu
Vierter Teil
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Über kaum einen anderen Schriftsteller sind so viele falsche Vorstellungen im Umlauf wie über Kafka: er war weder humorlos noch weltabgewandt oder gar zum Leben untauglich und schon gar nicht war er der Prototyp des Junggesellen. Gregor Samsa ist ein „typischer“ Junggeselle, der Autor selbst war es nicht. Es ist nicht abseitig, sich mit dem altmodischen Begriff des Junggesellen in Bezug auf Kafka näher zu beschäftigen, doch die wie selbstverständliche Verbindung seines Namens und Erwachsenenlebens mit diesem Begriff trägt sehr zu dem falschen Bild bei, das noch immer von ihm kursiert.
Das Junggesellensein war das Etikett, das ihm das traditionelle Denken seiner Familie und der im 19. Jahrhundert verhafteten bürgerlichen Gesellschaft aufprägte und das er bereitwillig übernahm, vielleicht bloß um überhaupt einen Platz in dieser Gesellschaft zu haben. Er selbst war im Grunde, obwohl er jahrelang den Konventionen vergeblich entsprechen wollte und sich auf das Ideal Ehe fixierte, schon sehr viel weiter, ein weitaus modernerer Kopf als alle in seiner näheren Umgebung. Er konnte sich durchaus freiere Formen der Beziehung zwischen Mann und Frau vorstellen.
Ganz am Ende seines kurzen Lebens verwirklichte er dann, brüchig und vom nahenden Tod überschattet, für einige Monate diese lange unterdrückten Ideen. In Dora Diamant hatte er offenbar endlich die richtige Frau gefunden. Mit ihr lebte er unverheiratet in Berlin zusammen. Wäre er nicht so krank gewesen, wäre vielleicht alles gut geworden, er hätte eine Partnerin fürs Leben gehabt, eine nahe Beziehung, in der er nicht um sein Schreiben hätte fürchten müssen. Mit Felice Bauer, der ersten Verlobten, wäre eine solche außereheliche Wohngemeinschaft noch undenkbar gewesen. Er hatte sich spät, aber endlich doch vom Elternhaus gelöst.
Der 1919 entstandene „Brief an den Vater“ markiert für ihn innerlich, denn der Adressat bekam diesen Brief niemals zu Gesicht, einen Wendepunkt, den Beginn einer Art Emanzipation. Ein letztes Mal hatte er sich dem Diktat der überkommenen Standes- und Moralvorstellungen gebeugt. Die Verlobung mit Julie Wohryzek musste er lösen. Als er seinem Vater von den Heiratsabsichten berichtet hatte, war er von diesem beschimpft worden. Er solle lieber ins Bordell gehen, als „eine Beliebige“ zu heiraten, hatte der Vater gewütet. Diese Szene im September 1919 löst zwei Monate später die Niederschrift des „Briefes“ aus. Darin schreibt Kafka:
„Tiefer gedemütigt hast Du mich mit Worten wohl kaum und deutlicher mir Deine Verachtung gezeigt.“
Der Brief markiert nicht nur eine Wende in Kafkas Leben; sein Entstehen fällt zusammen mit dem Untergang einer ganzen Welt. Der persönliche und der allgemeine Wandel gehen miteinander einher. Der 1. Weltkrieg hatte das überkommene Gesellschaftsgefüge, hatte Standes- und Moralbegriffe hinweggerissen. Prag war nicht länger eine Stadt in der k. und k.-Monarchie.
Kafka, der typische Junggeselle, – eine falsche Charakteristik, die man versucht ist von seinen literarischen Figuren auf ihn zu übertragen, doch seine Persönlichkeit war sehr viel reicher, als es das Klischeebild des Junggesellen vermittelt. Niemand käme auf den Gedanken, den jungen Goethe als Junggesellen zu bezeichnen, obwohl er das ja bis zu seinem 40. Lebensjahr ebenfalls war. Dann erst, etwa im gleichen Alter wie Kafka, war er mit einer Frau eine Lebensgemeinschaft eingegangen.
Eine Reise mit Faust und Mephisto
Kafka hatte sich früh in den Bindungsängsten des jungen Goethe wiedererkannt. Ende Juni/Anfang Juli 1912 unternahm er gemeinsam mit Max Brod eine Reise nach Leipzig und Weimar, eine Reise, die sich in vielfacher Hinsicht mit der Literaturgeschichte verweben sollte. Die „Wallfahrt“ der Goetheaner sollte zugleich die Einführung Franz Kafkas, des bisher allein in Brods Augen bedeutendsten Dichters seiner Zeit, in die Literatur sein. Es ging darum, einen Deal mit einem jungen, aufstrebenden Verlag abzuschließen. Brod hatte die Kontakte, Brod hatte vorgefühlt, Kafka hatte dem Drängen des rührigen Freundes schließlich nachgegeben. In Leipzig müssen sich die beiden erstmals ein Hotelzimmer teilen, da nur noch eines frei ist. Das führt zu Verdruss. Kafka schläft grundsätzlich bei offenem Fenster, Brod dagegen stört der Lärm der Stadt. Nachts um vier schließt er das Fenster, Kafka erwacht. Brod vermerkt in seinem Tagebuch:
„Träume aber so Böses von ihm, dass ich das Fenster wieder öffne. Schlafe dann trotzdem, den Kopf ins Kissen gewickelt.“
Am Morgen ist Brod mit dem damals erst 25-jährigen Ernst Rowohlt verabredet, dem späteren Verlagsgründer, während sich Kafka im Buchgewerbemuseum und in einer Lesehalle herumdrückt. Nachdem Brod die Stimmung sondiert und das Terrain bereitet hat, trifft er sich mit Kafka vor dem Goethedenkmal. Gute Nachricht: Rowohlt will Kafka kennen lernen. Sie begeben sich in Wilhelms Weinstube, Rowohlts zweites Büro. Dort sitzt Rowohlt zusammen mit den Literaten Graf Bassewitz, Kurt Pinthus und Walter Hasenclever bei großen Bechern Weinschorle. Kafka in seinem Reisetagebuch:
„Rohwolt. (er schreibt den Namen beharrlich falsch, sogar auch in der Anrede eines Briefes im folgenden August). Jung rotwangig, stillstehender Schweiß zwischen Nase und Wangen, erst von den Hüften an beweglich.“
Es braucht nicht viel, um sich auszumalen, dass Kafka in Gesellschaft des im Übermaß selbstbewussten, dröhnend-lauten, saufenden Rowohlt noch stiller, scheuer und unsicherer wurde, als es ohnehin unter gewissen Umständen seine Neigung war. Zum Glück gab es da ja noch den vornehmen, feinsinnigen Kurt Wolff, der mit Rowohlt das aufstrebende Verlegerduo bildete und über das Geld und damit die Macht verfügte. Wolff war natürlich in der Weinstube gar nicht dabei. Ihn trafen Kafka und Brod kurz danach im Verlagsbüro. Wolff blieb die Begegnung mit „spukhafter Deutlichkeit“ lange vor Augen. In seinen Erinnerungen hielt er später fest:
„…ich habe im ersten Augenblick den nie auslöschbaren Eindruck gehabt: der Impresario präsentiert den von ihm entdeckten Star. Natürlich, so wars ja auch, und wenn dieser Eindruck peinlich war, so war das in Kafkas Wesen begründet, der unfähig gewesen wäre, diese Einführung mit einer leichten Geste, einem Scherz zu überkommen. Ach, wie er litt. Schweigsam, linkisch, zart, verwundbar, verschüchtert wie ein Gymnasiast vor den Examinatoren, überzeugt von der Unmöglichkeit, die durch die Anpreisung des Impresario geweckten Erwartungen je zu erfüllen. Und überhaupt, wie hatte er nur einwilligen können, sich als Ware einem Käufer vorstellen zu lassen!“
Wolffs Eindruck deckte sich durchaus mit der Selbstwahrnehmung Kafkas. In seiner viele Jahre später entstandenen Erzählung „Ein Hungerkünstler“ wird der Hungerkünstler von einem Impresario begleitet; es ist nicht abwegig, diese Geschichte auch als kleine, bitter-ironische Hommage an Max Brods Bemühungen um den Freund zu lesen. Wahrlich kurios werden die Leipziger Erlebnisse aber durch ihre Parallelen zu Goethes „Faust“. Denn der Auftritt Kafkas und Brods in der Weinstube hat ja zweifellos sein Urbild in der Szene „Auerbachs Keller“: da haben wir die „lustigen Gesellen“ um Ernst Rowohlt und da haben wir den weltscheuen Stubenhocker „Faust“ (Kafka) und den forschen, anstachelnden „Mephisto“ (Brod).
„Ich muss dich nun vor allen Dingen in lustige Gesellschaft bringen, damit du siehst wie leicht sich’s leben lässt“, sagt Mephisto. „Ich hätte Lust, nun abzufahren“, sagt Faust, als die Stimmung ihren Siedepunkt erreicht. Das Verhältnis Faust-Mephisto ist schon „ein bissel“, wie Kafka gesagt hätte, das Grundmuster seiner Freundschaft zu Brod. Brod versuchte Kafka immer wieder hinaus ins Leben zu ziehen, er drängte ihn zum Veröffentlichen seiner Texte, er schleppte ihn in Bordelle. Kurz nach der Ankunft am Leipziger Bahnhof fragt Brod den erstbesten Dienstmann nach „Mädchen“. Kafka vermerkt es in seinem Tagebuch, wo über den Ankunftsabend außerdem zu lesen ist:
„Max topographischer Instinkt, mein Verlorensein. … Nachtarbeit auf einem Bauplatz, wahrscheinlich auf der Stelle von Auerbachs Keller. Nicht zu beseitigende Unzufriedenheit mit Leipzig. Unentschlossenheit in den Bordellgässchen. Mein Schuhbandbinden wird von der Gasse zum Fenster hin besprochen.“
Trotz des skurrilen Ablaufs: „die Expedition war erfolgreich“ (so Rainer Stach in seiner herausragenden Kafka-Biografie, deren zweiter Band in diesem Jahr erschienen ist): Kafka hatte einen Verlag. Getoppt wurde die wunderliche Vermischung von Literatur und Leben dann noch in Weimar, dem nächsten Ziel der kleinen Reise. Im Goethehaus verliebt sich Kafka in die sechzehnjährige Tochter des Hausverwalters, Margarethe Kirchner, von Kafka fortan nur noch „Grete“ genannt. So geht es eben, wenn man vor dem Goethehaus steht und eine „fühlbare Beteiligung unseres ganzen Vorlebens an dem augenblicklichen Eindruck“ spürt.
Kafkas Verliebtheit ist völlig aussichtslos, er weiß es im Grunde selbst, gibt sich aber dennoch dieser von Literatur, und insbesondere von Goethes Liebesgeschichten, genährten Schwärmerei hin. Sein „Gretchen“ steht mit beiden Beinen auf der Erde, die Eltern sind allzeit zugegen, sie sieht gerade in diesen Tagen dem Abschlussball der Tanzstunde entgegen und ist wohl nur geschmeichelt von den Avancen des „Herrn Dr. Franz Kafka“, der ihr Pralinen schenkt. Kafkas Anbändeln erlaubt es den Freunden immerhin, fortan das Goethehaus auch außerhalb der Besuchszeiten besichtigen zu dürfen. Natürlich hat Mephisto ein wenig nachhelfen müssen: „Sie steht bei einem Rosenstrauch. Ich gehe von Max gestoßen hin…“. Nach sieben Tagen, es ist ein Samstagabend, heißt es dann:
„Sie steht vor der ein wenig geöffneten Küchentür in dem lange vorher gepriesenen Ballkleid, das gar nicht so schön ist, wie ihr gewöhnliches. Schwer verweinte Augen, offenbar wegen ihres Haupttänzers, der ihr schon überhaupt viel Sorgen gemacht hat. Ich verabschiede mich für immer. Sie weiß es nicht und wenn sie es wüsste, läge ihr auch nichts daran.“
Immerhin schreibt sie Kafka aber bald darauf noch zwei Karten, was er in einem Brief an Brod erwähnt. Eine der beiden Karten zitiert er vollständig, denn Mephisto hielt das Gretchen für dumm; die Karte komme „mindestens aus einem unteren Himmel der deutschen Sprache“, bescheinigt er dem Freund. Und dann fallen einige Sätze, die seine nächste Liebesbeziehung, es wird diejenige zu Felice Bauer sein, vorwegnehmen:
„Bedenke vor allem, dass diese Zeilen (der zitierten Karte) von Anfang bis zu Ende Literatur sind. Denn wenn ich ihr nicht unangenehm bin, so bin ich ihr doch gleichgültig wie ein Topf. Aber warum schreibt sie dann so, wie ich es wünsche? Wenn es wahr wäre, dass man Mädchen mit der Schrift binden kann?“
Genau diesen Versuch wird er zwei Monate später unternehmen: „ein Mädchen mit der Schrift binden“.
Sprecher: Christoph Maasch und Thomas Laufersweiler
Fortsetzung folgt