Kafka: Die Verwandlung der Realität (3)

“Ein Pfad in der unbekannten Welt”
Götz entdeckt Kafka neu
Dritter Teil

[display_podcast]

Zwei große Autoren, Peter Handke und Julien Gracq, haben beide eine Eigenschaft von Goethes Prosa hervorgehoben, die auch für Kafkas Schreiben eine Rolle gespielt haben dürfte: die Verdrängung oder Verwandlung des Faktischen zugunsten einer Universalisierung der Welt. Handke lässt seinen Erzähler in dem Roman „Mein Jahr in der Niemandsbucht“ über die Schauplätze verschiedener Epen sinnieren. Zu Goethe heißt es da:

„Und war der Ort der „Wahlverwandtschaften“ und des „Wilhelm Meister“ … nicht, statt ein Tatsachen-Deutschland, die so erfinderisch wie energisch freigeräumte Provinz eines einsam gewaltigen Kopfes, zur Entfaltung, Dramatisierung und Zuspitzung, … , von dessen Idealen.“

Auch Kafka räumte seine Orte mehr und mehr frei von den Tatsachen. Gracq dagegen bedauert das Verschwinden der Tatsachen bei Goethe und kritisiert ihn dafür. Er schreibt:

„Zu den Eigentümlichkeiten, die mich in den Romanen Goethes (mit Ausnahme des „Werther“…) abstoßen, gehört auch die Abstraktheit des Erzählgewebes, das die Außenwelt fast immer wie eine Skizze behandelt (man kann die „Wahlverwandtschaften“, … , fast vom Anfang bis zum Ende lesen, ohne auch nur auf eine Erwähnung einer Farbe zu stoßen). Es gibt so gut wie keine Schriftsteller, die in der Fiktion ärmer an wahrheitsgetreuen kleinen Details sind.“

Die Außenwelt eine Skizze – das ist auch der Eindruck, den man bei der Lektüre von Kafkas Romanen, mit Ausnahme des „Verschollenen“, hat. Im „Verschollenen“ gibt es durchaus noch Schilderungen, etwa der Straßenschluchten New Yorks oder der weiten amerikanischen Landschaften, im „Prozess“ und im „Schloss“ gibt es nichts Vergleichbares mehr.

Kafkas Schreiben entwickelte sich, ob beeinflusst von Goethe oder nicht, dahin, dass er die reale Gegenwart immer weniger unmittelbar eindringen ließ, sie vielmehr einer Verwandlung unterzog, verallgemeinerte – „Prozess“ und „Schloss“ spielen an Niemandsorten, in einer vom Autor geschaffenen Parallelwirklichkeit, die sich aber vor allem aus dem Alltag des Autors nährt. Erfunden hat Kafka weniger als oft angenommen wurde, er hat sich keine phantastischen Welten ausgedacht, er war ein Meister der metaphorischen Verwandlung der von ihm erlebten Realität.

Autoren phantastischer Literatur, die sich auf Kafka berufen, sitzen einem Missverständnis auf. Das so genannte Kafkaeske ist ein Element der modernen Welt, nicht der Literatur. Melville beispielsweise hatte es im „Bartleby“ schon vor ihm aufgespürt. So zeitlos Kafkas Texte sind, die Bezüge auf sein Leben sind zahlreich, sie sind nur in der Struktur verborgen, als bildhafte Entsprechung einer Erfahrung oder eines Bündels von Erfahrungen. Die erste Ausgabe der Alles, was er erlebt und beobachtet, muss beim dichterischen Schreiben (nicht in den Briefen, wobei auch dort seine einmalige Gabe des bildlichen Sprechens immer wieder aufblitzt) das Wunderhorn seiner Imaginationskraft passieren. Eine konkrete, zeitgenössische Umwelt lässt sich, ebenso wie in Goethes Prosa ab dem „Wilhelm Meister“, nicht fassen, wobei der Zug ins Allgemeingültige, Universelle, ja auch schon im „Werther“ ganz da ist. Es gibt darin erstaunlich wenige Passagen, die ihn explizit im 18. Jahrhundert verankern.

Kafka schätzte kaum einen Roman so sehr wie Flauberts „Education sentimentale“, doch von dessen realistischer Darstellung des Großstadtlebens im Paris des 19. Jahrhunderts zu Kafkas Hauptwerken scheint es keine Verbindung zu geben. Verbindungen gibt es auf anderen Ebenen. Auch Kafkas Helden machen sich Illusionen, die immer wieder zerstört werden, auch ihnen folgt eine kalte, unbeteiligte Erzählerstimme (die „Impassibilité“ Flauberts) bei ihren zunehmend verzweifelten Bemühungen um Recht,  Anerkennung und Glück. Kafkas Kunst hat bizarre oder surreale Elemente, doch nach ihnen strebte er nicht, nicht einmal in der „Verwandlung“ oder der „Strafkolonie“, er wollte vielmehr seine eigene und die allgemeine Welt darstellen, wie sie ist, allerdings ohne irgendetwas unmittelbar beim Namen zu nennen.

Sein „Kniff“ war das Buchstäbliche. Wie oft war er sich innerhalb der Familie wie ein riesiger Fremdkörper vorgekommen, abstoßend und seltsam wie ein Insekt. Das war allerdings seine Innenansicht; seine Eltern, seine Schwestern, die Bediensteten nahmen ihn ganz anders wahr: sie wunderten sich, ärgerten sich wohl nicht selten auch, doch sie liebten ihn, denn er war ja ein ausnehmend gutmütiger, höflicher, hilfsbereiter, meist ernster, zu Zeiten aber durchaus auch heiterer Mensch; zumindest ließ er sich von der Heiterkeit und dem Übermut anderer gerne anstecken. Aber die Innenansicht: da war die „ungeheure Welt“ in seinem Kopf, die ihn von allen trennte, ihn zu Zeiten sehr vereinsamen ließ. Also erzählt er von einem berufstätigen Sohn, der noch zu Hause wohnt, eine Schwester hat (Kafka deren drei) und plötzlich tatsächlich ein Ungeziefer ist.

Sprecher: Sandra Hochhuth und Thomas Laufersweiler

Fortsetzung folgt

Schreibe einen Kommentar