Nazis im Weltall

Wednesday ist ein sechzehnjähriges Mädchen und sie hört eine Stimme in ihrem Kopf. Eine Stimme, die sie zum Überleben brauchen wird, denn als die Sonne des nahe gelegenen Planeten Moskau durch einen Anschlag zerstört wird, gerät sie in das Fadenkreuz der Attentäter. Charles Stross springt gleich mitten hinein in die Geschichte: Wednesday wird durch die leeren Gänge einer gerade geräumten Raumstation gejagt, gerade noch gelingt ihr die Flucht. Und Wednesday ist nicht die einzige, die in Gefahr gerät: Auch Frank, die „Spürnase“ – ein Journalist und die Geheimagentin Rachel Mansour.

Künstliche Intelligenz

Stross entwirft eine interessante Zukunft. Aus weit entwickelten Computernetzwerken entsteht eine künstliche Superintelligenz, das „Eschaton“. Es beamt große Teile der Menschheit auf viele weit entfernte, bewohnbare Planeten. Und es dauert Jahrhunderte, bis die unfreiwilligen Auswanderer und die Menschen auf der Erde wieder stabile Zivilisationen entwickeln. Das Eschaton hält sich im Hintergrund und wacht darüber, dass die Menschen keine Technologie entwickeln, die seine eigene Existenz gefährden könnten. Zeitreisen zum Beispiel.

Fanatische Feinde

Das Eschaton hat Feinde, natürlich. Als besonders gefährlich erweisen sich die Übermenschen. Sie glauben daran, dass sie eine neue Superintelligenz schaffen werden, den ungeborenen Gott. Ihm wollen sie alle Seelen einverleiben, damit er sie richten werde. Diese fanatische „Herrenrasse“ hat bereits die Technologie entwickelt, den Menschen Bewusstein und Erinnerung zu entfernen und sie zu speichern – wirklich eine gänsehauterzeugende Mischung aus Nationalsozialisten und Scientologen, die über Leichen gehen. Über sehr viel Leichen. Zweifel kennen sie offenbar nicht:

„Wir sind frische, freie, starke Menschen und nehmen freudig die Bürde auf uns, für die große Sache zu arbeiten, denn wir haben ein gemeinsames Ziel: eine helle Zukunft zu schaffen […] befreit vom Schatten des menschenfeindlichen Eschaton, befreit von den Fesseln des Aberglaubens und der unwissenschaftlichen Denkweisen.“

Atemberaubender Wettlauf

Nachdem bereits bei der Zerstörung des Planeten Moskau Millionen Menschen getötet wurden, sind weitere Welten in Gefahr. Was als temporeicher Überlebenskampf eines Mädchens beginnt, steigert sich zu einem atemberaubenden Wettlauf gegen die Zeit, um die Verschwörer und ihre Attentäter aufzuhalten. Stross hat in dieser abwechslungsreichen Geschichte die Dramaturgie fest im Griff. Wenn man als Leser sich nach dem ersten Drittel über die Zahl der Figuren und Schauplätze noch wundert, erkennt man doch bald, dass alle Fäden aufgegriffen werden.

Es gibt einiges, was den Roman heraushebt aus der Masse der SF-Thriller: Stross beeindruckt mit seinen interessanten Charakteren, auch wenn er diese nicht so souverän zum Leben erwecken kann wie Iain Banks. An Banks erinnern allerdings die vielen, überzeugend geschilderten Details und die politische Ebene. Denn man kann als Leser nicht der Frage ausweichen, wie verletzlich unsere Zivilisation ist, wie zerbrechlich die Menschlichkeit. Stross wirft unsere Schwächen und Stärken, Sünden und Tugenden hinaus ins All und lässt uns erkennen, wie wenig wir dazu lernen werden in der Zukunft. Wenn Journalist Frank Johnson zurückblickt auf die Massaker der Übermenschen kommt uns das alles unangenehm vertraut vor:

„Auf dem Platz haben die damals dreitausend Menschen umgebracht, wussten Sie das? Doch weitere zwei Millionen haben sie im Lauf der folgenden drei Jahre in diesen Lagern ermordet. Und die Arschlöcher sind damit durchgekommen. Weil jeder, der darüber Bescheid weiß, eine Scheißangst hat, viel zu große Angst, um irgendetwas zu unternehmen.“

Deutsche Namen

Ungewöhnlich für einen englischen SF-Roman: Viele Namen – besonders die der bedrohlichen Übermenschen – sind deutsch und das irritiert und gruselt auch den deutschen Leser gehörig. Abgesehen von den (seltenen) Sexszenen, die leider eine peinliche, sehr beschränkte, rein männliche Vorstellungswelt wiedergeben, ist „Supernova“ ein außergewöhnlicher Roman, der immer wieder unter die Haut geht. „Singularität“, den ersten Roman von Charles Stross, in dem er die Vorgeschichte von „Supernova“ erzählt, habe ich schon auf meine Leseliste gesetzt.

Charles Stross
Supernova
(Originaltitel: „Iron Sunrise“, 2004)
Heyne 2005
ISBN 3453520521
8,95 Euro

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