Götz verbringt einen Sommer mit Gantenbein, dem Grünen Heinrich, Brunetti und Kyros – erster Teil (von vieren)
Zwei Dinge werden mit zunehmendem Alter schwieriger: die Wahl der richtigen Lektüre und die Wahl des Ziels für eine Reise. In beiden Fällen ist es wohl der erweiterte Horizont, der wie auch in anderer Hinsicht das Leben komplizierter werden lässt. Man treibt auf dem Meer der Möglichkeiten und findet kein Ufer. Früher wurde ich mit einer gewissen Zwangsläufigkeit und wie selbstverständlich von Buch zu Buch geleitet – und ebenso von Reiseziel zu Reiseziel.
Alles schien geradezu schicksalhaft oder notwendig zu sein. Es war ganz klar, dass ich in einem bestimmten Frühjahr nach Florenz oder Avignon reisen musste oder in einem bestimmten Sommer quer durch Frankreich oder Italien. Und es war ebenso klar, wann der rechte Zeitpunkt war, um etwas von Patricia Highsmith, Tolstoi, Joseph Conrad oder Adalbert Stifter zu lesen. Ich schien keine oder kaum eine Wahl zu haben. Vieles ergab sich ohne längere, zähe Überlegungen.
Inzwischen quält mich in diesen Dingen eine Art Wahllosigkeit. Wo ich bereits einmal war und wo es mir gefiel, dort möchte ich noch einmal hinreisen und zugleich haben sich die Sehnsüchte nach anderen, mir unbekannten Orten vervielfältigt. Und ebenso – was ich schon einmal las und was mich damals begeisterte, das möchte ich wieder und wieder lesen und zugleich drängen sich immer mehr neue, noch ungelesene Bücher auf.
Warum aber war mir früher nur ein einziges Ziel wichtig und alle anderen versanken dann, sobald es entschieden war, wohin die Reise gehen sollte, wie Kulissen im Nebel? Zum einen glaubte ich, über mehr Zeit zu verfügen. Reiste ich in diesem Jahr nicht nach Rom, so konnte ich es eben im folgenden Jahr tun. Das gilt zwar auch heute noch, doch es fehlt eben jene selige Täuschung der Unendlichkeit, in der nur die Kinder und jene, die die Kindheit noch nicht allzu lange hinter sich gelassen haben, leben.
Dieser scheinbaren Unendlichkeit der Zeit korrespondiert eine Begrenztheit der Raumwahrnehmung. Dort, wo man gerade war, war man glücklich und wenn man unglücklich war, kam es einem nicht in den Sinn, das Glück an anderen Orten zu vermuten. Zum anderen war das Leben noch von Ausschließlichkeiten geprägt und nicht von einer Vielzahl von Möglichkeiten, die fortgesetzt Entscheidungen verlangen. Das gewählte Ziel einer Reise schloss alle anderen aus, so als seien sie überhaupt nicht existent, selbst eine Interrail-Tour, die ja spontane Änderungen der Richtung an jedem europäischen Bahnhof erlaubt, folgte geheimen Gesetzmäßigkeiten.
Auch das Buch, das man jeweils las, schloss alle anderen aus, sie huschten wie von Zauberhand von der Bildfläche. Es zählte nur das Buch, das ich gerade zur Hand hatte, so als sei es das einzige und allein für mich geschrieben worden. Und es gibt ja tatsächlich Bücher, die alle anderen überflüssig machen. Würde man mich an einen Ort verbannen, wo es keine Bücher gäbe und ich nichts im Gepäck hätte als „Krieg und Frieden“, „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, „Die Mappe meines Urgroßvaters“ oder „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ – so wäre ich vollkommen zufrieden, denn es handelt sich dabei um Bücher, die alle anderen in sich einschließen und daher vollauf genügen. Bei jedem Leser wären es naturgemäß andere Werke, denen er diese Kraft zugesteht – ich will nur sagen: Es gibt sie.
Inzwischen finde ich immer seltener ein Buch, dem die Macht inne wohnt, für die Zeit seiner Lektüre alle anderen zu verscheuchen. Immer seltener entdecke ich einen Autor „für mich“. Doch zugleich werden meine Wunschlisten immer länger und da ich nicht über all zu viel Zeit zum Lesen verfüge, bin ich während des Lesens auch ungeduldiger als früher. Ich bin mit dem jeweiligen Buch fast nie zufrieden, denn ich habe ja ein Pensum abzuarbeiten, ich habe eine Liste, von der Namen und Buchtitel gestrichen werden müssen. Aus dem Kaufen und Lesen ist ein Kaufen und ins Regal stellen geworden: Sämtlich Symptome der Krankheit des fortgeschrittenen Lesers.
Man kann glücklicherweise nicht an zwei Orten zugleich sein, also muss man sich beim Reisen letztlich doch entscheiden oder zuhause bleiben. Allerdings kann man mehrere Bücher parallel lesen. Dieser sinnlosen Praxis verfallen gerade all jene oft, die sehr gerne lesen und deren Literaturhorizont mit den Jahren immerzu gewachsen ist. Wie in allem – das Zuviel lähmt jedoch und wird zur Last. Hat man auch eine Lektüreliste und will sich an diese in den folgenden Monaten streng halten, so ist man ja immerzu Versuchungen ausgesetzt, indem man in Buchhandlungen, im Fernsehen, in der Zeitung auf andere Bücher aufmerksam wird, die ebenfalls lesenswert dünken und die man sofort kennen möchte. In diesem Sommer war es Max Frischs Roman „Mein Name sei Gantenbein“, der meine Lesedisziplin zersetzte. (mehr morgen im zweiten Teil)