Meine unvollendete Ferienlektüre (2)

Götz verbringt einen Sommer mit Gantenbein, dem Grünen Heinrich, Brunetti und Kyros – zweiter Teil (von vieren)

In diesem Sommer war es Max Frischs Roman „Mein Name sei Gantenbein“, der meine Lesedisziplin zersetzte. Ich blätterte in einer Buchhandlung in einer neuen Taschenbuchausgabe und blieb an einem Satz hängen, der allein mich veranlasste, das Buch zu kaufen. Es ist ein recht unspektakulärer Satz. Er lautet:

„Das war 1942, ein Sonntag im April oder Mai, wir hatten Kantonnement in Samaden, Graubünden, ein wolkenloser Tag, ich hatte Urlaub übers Wochenende, fuhr aber nicht nachhaus, sondern wollte ohne Menschen sein und ging in die Berge.“

Ein Satz mit biografischem Hintergrund: Frisch leistete während des Zweiten Weltkriegs zeitweise Militärdienst, war dabei auch im Oberengadin stationiert. Und ein Satz, der vielfältige Resonanzen auszulösen vermag: zu Beginn wird ein Jahr genannt, ein Kriegsjahr, wie ein Pflock, der vom Schreibenden eingerammt wird, um im Leser den historischen Hintergrund heraufzubeschwören, und von diesem Pflock aus spannt der ausgebildete Architekt Frisch nun seinen Satz ab wie Markierungen auf einem Baugrundstück, jeder Satzteil ein weiterer Pflock, den er mit dem Hammer einschlägt, um einen Raum, eine Lebenssituation zu umreißen: sich das Haus vorzustellen ist dann die Sache des Lesers. Und ist nicht bei großer Literatur der Satz immer nur ein Grundriss, mittels dessen sich die Imagination des Lesers ein Haus errichtet?

Wie sieht der Grundriss hier aus: dem Jahr folgen der Tag und die Jahreszeit. Zur Vorstellung „Krieg“ wird ein Gegenbild entworfen: es ist Sonntag, was eine Stimmung der Friedlichkeit, des Innehaltens, der Ruhe assoziiert; es ist Frühling, zudem „ein wolkenloser Tag“, wie wir im fünften Abschnitt des Satzes erfahren – Heiterkeit und Zuversicht treten hinzu, diese positiven Signale werden allerdings durch die sachliche Information, der namenlose Ich-Erzähler befinde sich im „Kantonnement“, also in einem militärischen Dienst, wieder gebrochen. Der Soldat hat Wochenendurlaub, er will aber nicht „nachhaus“, sondern „ohne Menschen sein“ – wer damit genau gemeint ist, erfahren wir nicht – doch offenbar umgibt den Erzähler zu Hause ein vielfältiges soziales Netz. Allerdings bedarf er nun der Einsamkeit – auch dazu erfahren wir nichts weiter, was aber die Formulierung „wollte ohne Menschen sein“ umso stärker wirken lässt, als würde der Erzähler noch hinzufügen: weil ich nachdenken wollte, weil ich unglücklich war, weil ich mich in einer seelischen Krise befand.

Dann der Ausklang des Satzes, mit dem sich der Architekt von seinem Grundriss entfernt: „und ging in die Berge“. In dieser vagen Formulierung schwingt etwas Endgültiges mit, so als habe sich da jemand ein für alle Mal zur Lebensform eines Eremiten entschlossen; im Leser wird der Topos vom Weisen, vom Denker, der sich von den Menschen zurückzieht, aufgerufen – Nietzsche kommt in den Sinn, der unweit von Samaden, in Sils Maria, einige Sommer verbrachte und dort ebenfalls „in die Berge ging“, auf Wahrheitssuche.  Das war also der Satz, der mich denken ließ:

„Warum nur hast du um diesen Roman all die Jahre einen Bogen gemacht, hast nicht einmal in ihm geblättert, obwohl du doch Frisch sehr schätzt und seine übrigen Prosawerke, „Homo Faber“, „Stiller“, „Montauk“ und die Tagebücher sämtlich intensive Leseerfahrungen für dich waren?“

Als ich mit der Lektüre des Buches begann, musste ich bald feststellen, dass sie nicht solch ein Genuss war wie sonst bei Frischs Büchern. Es lag nicht an dem vertrackten, komplexen Aufbau, sondern wohl eher daran, dass der Ich-Erzähler jenes oben zitierten Satzes keine durchgehende Stimme in dem Roman war, sondern aufgesplittert wurde in mehrere Personnagen, die der Erzähler „ausprobiert wie Kleider“ (so Frisch selbst) oder „erfindet“, um einer Lebens- und vor allem Liebesproblematik auf den Grund zu gehen. Die Geliebte, Lila mit Namen, ist Schauspielerin, doch wer hier in verschiedenen Rollen auftritt, unterschiedliche Masken trägt, ist der mit Lila liierte Erzähler. Die Hauptrolle neben Lila kommt Gantenbein zu, der nach einer Gesichtsverletzung vorgibt, blind geworden zu sein. Warum? Damit er das Leben als Spiel ansehen kann, mehr Freiheit im Umgang mit Menschen hat, ungestörter Beobachter sein kann. Diesem Grundeinfall – jemand stellt sich blind – gewinnt Frisch immer wieder neue originelle Situationen ab, er kostet ihn bis in jede Nuance aus, vom Pathos bis zum Kalauer, von der Tragödie bis zur Komödie.

Allerdings trägt die Idee der vorgegaukelten Blindheit nicht so sehr, wie Frisch vielleicht glaubte. Zumindest im Rahmen eines doch alles in allem realistischen Romans mangelt es ihr in mancher Szene an Glaubwürdigkeit, vielleicht hätte sie Frisch besser in einem seiner Theaterstücke verwendet. Das Seitensprung- und Eifersuchtsdrama zwischen Gantenbein und Lila tendiert zur Farce, verliert sich oft im Belanglosen, Lächerlichen, Kleinlichen; selten wird diesen Elementen jener poetische Ernst beigemischt, der die Vorgängerromane „Stiller“ und „Homo Faber“ und später „Montauk“ durchdringt.

Frisch hat die Rezeptur hier variiert, um seine Grundthemen Identität, Liebe, Schicksal, die vielen Lebensentwürfe, Möglichkeiten, die der Einzelne in sich trägt und nicht alle verwirklichen kann in einem neuen, teils grelleren Licht darzustellen. Das ist sein gutes Recht und selbstverständlich ist Frisch auch im „Gantenbein“ ein großer Autor. Doch schon die ersten Kritiker reagierten verhalten oder irritiert, sprachen gar vom „Scheitern des Erzählers Max Frisch“ (so Hans Mayer). Das ist gewiss überzogen, denn Frisch wollte das Buch abgesehen von dem jeder künstlerischen Arbeit grundsätzlich immanenten Scheitern genauso haben, wie es jetzt vorliegt.  Es ist ja durchaus tröstlich, dass auch namhafte Leute, professionelle Kritiker und Literaturwissenschaftler mit dem „Gantenbein“ nicht warm wurden.

Ich war jedenfalls nahe daran, die Lektüre abzubrechen, was mir aber je berühmter ein Autor ist umso schwerer fällt, da ja einerseits immer damit zu rechnen ist, dass im Verlauf des Textes noch irgendwelche Edelsteine zum Vorschein kommen und man andererseits einfach eine Achtung gegenüber dem Buch und der Leistung des Schriftstellers hat. Es gibt Autoren, die ihr Werk so sehr mit ihrer Persönlichkeit durchdringen und so redlich sind, dass sie nichts Schwaches, Misslungenes, Halbes zulassen. Sie verfolgen keinen anderen Zweck mit dem Schreiben als das Schreiben selbst. Und da Frisch ein solcher Autor ist, bin ich gewillt, mir zunächst einmal an die eigene Lesernase zu fassen und nicht leichtfertig von einem gescheiterten Buch zu sprechen.

Im „Gantenbein“ hat Frisch obsessiv seine Liebesbeziehung zu der Dichterin Ingeborg Bachmann umkreist und vielleicht sind die eigentümliche Form und die Narreteien bloß der Versuch Sprengminen auszuweichen, schwere Gefühle zu unterdrücken. Ingeborg Bachmann hatte bereits ein Tagebuch Frischs vernichtet, dass dieser über den Verlauf ihrer Liebe verfasst hatte und nun erwartete sie im Frühjahr 1964 vom Erscheinen des „Gantenbein“-Romans, die gemeinsame Geschichte darin wieder zu finden. Frisch ließ ihr die Druckfahnen zukommen. Nach der Lektüre fühlte sie sich als „Studienobjekt“ missbraucht und bestand auf Auslassungen, wie Volker Hage in seiner Frisch-Monographie berichtet. Jedenfalls ist es möglicherweise auch das, die Empfindung, während man liest, dass da jemand noch sehr nah, vielleicht zu nah, an einer persönlichen Katastrophe entlang schreibt, komisch ist, wo er eigentlich heulen mag, Wahrheit nicht zulässt, sich in Banalitäten und Clownerien verstrickt.

Hin und wieder musste ich also den Frisch-Roman zur Seite legen, ohne ihn allerdings ganz aufgeben zu wollen. Und dann griff ich zu Donna Leons Krimi „Blood from a Stone“ …
(Morgen geht es weiter)

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