Nachtlektüre: Hendrik liest Changing Planes von U.K. LeGuin
Gerade lese ich zum zweiten Mal das Buch „Changing Planes. Armchair travel for the mind“ der u.s.-amerikanischen Autorin Ursula K. LeGuin, und wäre es das erste Mal und Mrs. LeGuin nicht ohnehin bereits seit ca. 25 Jahren meine Lieblingsautorin, dann wäre sie gerade auf dem steilen Weg zu dieser Position, und zwar mit dieser 2002 erstmals komplett erschienenen Sammlung von 15 Reiseerzählungen. Das Besondere an diesen Reisen ist nicht ihr Ausgangspunkt – nämlich irgendeiner der ungezählten Wartebereiche irgendeines internationalen Flughafens – sondern der Umstand, dass diese Reisen stattfinden, noch während die Erfinderin dieser Reisemethode auf ihren Anschlussflug wartet:
„[An] airport is not a prelude to travel, not a place of transition: it is a stop. A blockage. A constipation. The airport is where you can’t go anywhere else. A nonplace in which time does not pass and there is no hope of any meaningful existence. A terminus: the end. The airport offers nothing to any human being except access to the interval between planes. She [LeGuins Hauptfigur] had discovered that, by a mere kind of twist and a slipping bend, easier to do than to describe, she could go anywhere – be anywhere – because she was already between planes.”
Auf der Basis eines im Grunde fast schon dreist-einfachen Wortspiels (‘plane’ = ‚Flugzeug’, aber auch ‚Ebene’) lässt LeGuin ihre ErzählerInnen aufbrechen und immer neue Ebenen der menschlichen Existenz finden. Einem hardcore sf-Erzähler, dessen Romane ihren Reiz u.a. durch möglichst ausgefeilten futuristischen technobabble gewinnen, würde man so etwas keinesfalls durchgehen lassen, aber die arrivierte grande dame der u.s.-amerikanischen Phantastik hat sich schon längst das Recht erschrieben, eigene Wege zu gehen und teils sehr poetische Metaphern an die Stelle umständlicher technologischer Fiktionen zu setzen (man erinnere sich an den ‚Ansible’ der Hainish-Romane). Denn die Etappen der Reisen, auf die sie ihre LeserInnen in diesen 15 Erzählungen schickt, sind bereits Faszination genug.
Ziele dieser phantastischen Kopfreisen sind, wie schon gesagt, andere Ebenen – genauer: andere Ebenen menschlicher Existenz, völlig unentdeckte Kulturen und Zivilisationen, und im Stile einer guten klassischen Ethnographie lässt LeGuin ihre ErzählerInnen ohne jede weitere aufgesetzte Handlung einfach nur berichten, was sie während ihrer Besuche dort beobachten.
So begegnet man in der Erzählung „The Silence of the Asonu“ einer menschlichen Kultur, die sich der Sprache verweigert. Aber wie funktioniert sie? In „Social Dreaming of the Frin“ begegnen wir Menschen mit der Eigenschaft, untereinander Träume auszutauschen. Die Ansarac dagegen sind eine Kultur von Zugmenschen, die im Laufe ihres (sehr langen) Jahres mehrere Male zwischen den Städten des Südkontinents und den Farmen des Nordkontinents hin- und herziehen. Bei den Gy können manche Menschen fliegen, aber niemand weiß, ob ihn diese Gabe nicht plötzlich mitten im Fluge wieder verlässt. Und so fort.
Die Reisenden berichten – mal schockiert, mal eher amüsiert – von diesen Kulturen und versuchen, sie zu begreifen und für sich zu übersetzen. Dies gelingt nicht immer, und manchmal bleiben die Antworten verschlossen; die Rätsel bestehen über das Buch hinaus, weil LeGuin keine Autorin ist, die vorgibt, alle Antworten zu kennen.
Ich mag an solchen (leider seltenen) Büchern, dass sie einen reizvollen Wanderpfad bieten, der über den Horizont des Lesenden, der neugierigen Geistes dieser Einladung folgt, hinausgeht und das Denken um eine schöne Erfahrung (man sollte sagen können: Ergehung) erweitert. Manche Länder der Phantasie werden dabei zu einem Teil der eigenen inneren Landschaft. Und ich persönlich habe die Imperiale Gartenbibliothek der Mahigul schon bei meiner ersten Lektüre zu einem meiner liebsten Orte der ganzen Phantastik erkoren …
Wer immer daheim oder auch auf einem Flughafen oder Bahnhof ein bisschen kopfreisen möchte, dem kann ich nur empfehlen, sich irgendwann auch einmal zum Betreten einer der erzählten Welten LeGuins einladen zu lassen; es sind mit die schönsten gedachten Länder, die ich kenne.