Ohne einen Funken Selbstdisziplin

PJ liest:  „Dinge geregelt kriegen – ohne einen Funken Selbstdisziplin“ von Kathrin Passig und Sascha Lobo

Ich gestehe, ich habe es schon ein wenig vor mir hergeschoben, etwas über das Buch zu schreiben. Immerhin steckt in jedem Menschen ein kleiner Prokrastinierer – das sind Menschen, die alles vor sich herschieben oder auch LOBOs – Lifestile Of Bad Organisation. Gerade deshalb wurde das Buch geschrieben aus dem etwas dramatisch formulierten Antrieb:

„Wir schreiben dieses Buch aus Notwehr.“

Denn beide Autoren sind bekennende sowie praktizierende Prokrastinierer und wollen auf diesem Weg einerseits ihren Leidesgenossen helfen, andererseits in deren Mitmenschen das Verständnis dafür wecken, dass Aufschieber und Verzögerer keine böswilligen Sandstreuer ins Getriebe sein wollen, sondern dass sie nun mal so sind wie sie sind. Da helfe auch der Appell, man solle sich halt mal zusammenreißen und etwas Selbstdisziplin entwickeln, nicht die Bohne.

Das Buch ist flott bis flapsig geschrieben und ich freute mich auf Tiefgang und Ratschläge für die Menschheit, immerhin ist wie gesagt jedermann ein kleiner Aufschieber. Den Tiefgang vermisste ich dann recht bald. Zwar werden recht fleissig die unterschiedlichsten Forschungsergebnisse zitiert, die irgendwie mit Prokrastinieren zu tun haben, aber eine tiefergehende Reflektion derselben fehlt. Auch der schon sattsam bekannte Argumentationsstrang, dass das protestantische Arbeitsethos den Kapitalismus in seiner modernen ausbeuterischen Form erst möglich gemacht habe, darf nicht fehlen. Mittlerweile deutet übrigens einiges darauf hin, dass die Protestanten / Calvinisten vor allem deshalb wirtschaftlich erfolgreicher als die Katholiken waren, weil sie besser gebildet waren, indem sie Luthers Forderung nach Bildung für alle umsetzten.

Ja und dann die Ratschläge! Nun werden doch konkrete Formen von To Do-Listen oder Zeitmanagement und Deadlines als belebende Impulse für die Antriebskraft diskutiert. Dann noch ein Kapitel über das Mahnwesen und den Umgang mit Post, Geld und Staat – mit Tipps, die fast schon justitiabel erscheinen (Mahnungsgesellschaften so lange hinhalten, bis sie bei kleinen Forderungsbeträgen einem Deal über die Hälfte der Summe zustimmen …). Das ist lehrreich, aber wer wirklich hard-core-mässig prokrastiniert, der hat davon wenig Hilfe.

Auch die Trickkiste des Outsourcens, indem man Arbeiten delegiert, ist schnell ausgereizt und der Vorschlag, wenn man bei einem Projekt nicht weiterkommt, dann ein anderes vorzuziehen, ersteres also aufzuschieben, stellt für mich ein eher marginales Problem intellektueller Prokrastinierer und keine Lösung für die arbeitende Klasse dar. Überhaupt wird hier auf hohem Niveau geklagt, immerhin sind die Autoren Internet-Redakteurin und (ehemaliger) Kreativdirektor, beide erfolgreiche Buchautoren; denn ein Aufschieber / Verzögerer am Fließband einer Fabrik  oder als Regalauffüller im Supermarkt – welche neue Chancen bringen ihm wohl die Ratschläge des Buches?

Bedenklich finde ich das Kapitel über Ritalin, ein Medikament, das beide Autoren verschrieben bekommen haben, Passig wg. Narkolepsie, Lobo wg. ADS. Es helfe, Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen (wichtige Symptome der Prokrastination) zu lindern. Zwar werden Vor- und Nachteile der legalen Droge (Wirkstoff Methylphenidat) formal neutral dargestellt und auf ärztliche Konsultationspflicht sowie Risiken und Nebenwirkungen hingewiesen.

Doch hier scheint mir die Spitze des Eisbergs hochzukommen, der das Prokrastinieren als ein pathologisches Symptom unserer modernen reizüberfluteten Gesellschaft erscheinen lässt, das nur noch durch Pharmazeutika bewältigt werden kann. Und

„verantwortungsbewusste Bürger greifen deshalb nach Feierabend zu anderen Wirkstoffen, die diesen Effekt (Ritalin schafft eine langweilige Konsumentenwelt) ausgleicht und die Einsicht vermitteln, dass der Mensch nicht nur zum Arbeiten da ist.“ (S. 210)

Also morgens Ritalin und abends das Gegenmittel, so eine Art Breitband-Viagra? Das wäre die Welt des „Futurologischen Kongresses“ eines Stanislaw Lem, in der die Wahrnehmung der Umgebung durch Drogen massiv verschönt wird. Oder führten hier schlichtweg dümmlicher Sarkasmus und der Drang zur Provokation mit?

Was bleibt, ist der Unterhaltungswert durch die flotte Schreibe und einige pfiffige Formulierungen. Nicht zuletzt das ruhigere Gewissen, wenn man wieder mal was vor sich herschiebt.  Dazu die Gewissheit, so versichern die LOBO-Autoren:

„Wenn es wirklich, wirklich wichtig ist, werden wir mit einer unfassbaren Energie und Motivation an die Aufgabe gehen. Vielleicht nicht sofort, aber ganz bestimmt morgen. Oder übermorgen.“

Und das kann wohl (fast) jeder unterschreiben. Aber dafür fast 300 Seiten lesen? Na gut – morgen, oder übermorgen. Ganz bestimmt!

„Dinge geregelt kriegen – ohne einen Funken Selbstdisziplin“
von Kathrin Passig und Sascha Lobo
rowohlt Berlin
19.90 Euro
ISBN-13: 978-3871346194

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