„Die Dinge sind, wie sie sind“, sagt Aristoteles

Prof. Pu empfiehlt: „Schuld“ von Ferdinand von Schirach

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Auch der zweite Band mit Erzählungen von Schirachs hat mich vollkommen in seinen Bann geschlagen. Erstaunlich, wie es ihm in jeder Geschichte gelingt, eine ganz eigene Stimmung zu schaffen. Er erweckt Staunen, Zorn über vermeintlich ungerechte Urteile, Kopfschütteln und immer wieder Mitgefühl. Jede Menge Mitgefühl mit der Frau aus „Ausgleich“, die jahrelang von ihrem Mann verprügelt wird und ihn in dem Moment umbringt, als er droht, sich auch an ihrer gemeinsamen Tochter zu vergehen.

Cover

Buchcover "Schuld"

Jede Menge Empörung über einen seiner ersten Fälle, in dem ein ganzes Volksfest-Orchester ein Mädchen übelst vergewaltigt hatte. Einer der Musikanten hatte danach anonym die Polizei benachrichtigt, im Prozess aber geschwiegen, genau wie alle anderen.

Die junge Frau konnte die Täter nicht nennen, sie konnte die Männer nicht auseinanderhalten; unter Schminke und Perücken hatten alle gleich ausgesehen. Bei der Gegenüberstellung wollte sie nicht hinsehen, und als sie sich doch überwand, konnte sie keinen erkennen. Niemand wusste, welcher der Männer bei der Polizei angerufen hatte, aber es war klar, dass es einer von ihnen gewesen war. Für jeden Einzelnen musste deshalb gelten, dass er der Anrufer sein konnte. Acht waren schuldig, aber jeder konnte der Unschuldige sein.

Am Nachmittag hob der Richter die Haftbefehle auf, er sagte, es sein kein Nachweis zu führen, die Beschuldigten hätten geschwiegen.

Vollkommen nachvollziehbar, dass der junge Verteidiger von Schirach danach dachte, erst jetzt sei er wirklich erwachsen geworden. Und „dass die Dinge nie wieder einfach sein würden.“ Rechtsprechung und Schuld – zwei verschiedene Dinge, das habe ich von ihm gelernt. Trotzdem bleibt mir auch weiterhin schleierhaft, wie man als Strafverteidiger mit diesem Bewußtsein Tag für Tag umgehen kann.

Ich vermute, man braucht sehr viel Distanz zu den Dingen – „Mietschnauze“ hat sich mir gegenüber einmal eine Juristin genannt – oder man ist fähig, solche Geschichten zu schreiben. Jede Story für sich ist ein perfekter Film. In „Der Schlüssel“ dachte ich, ich sei in einer Kurzgeschichte von Josh Bazell gelandet, so ganz anders ist darin die Erzählart von Schirachs, drastisch, deutlich. Man könnte einen Splatter-Buddy-Krimi daraus machen.

Dann wieder sehr berührend ist in „Verlangen“ die Geschichte einer Frau, die aus einer großen inneren Leere heraus beginnt, sinnlose Kaufhausdiebstähle zu begehen. Eine Anwandlung, die so unspektakulär endet wie sie begonnen hat.

Von Schirach verbindet kühle Distanz mit tiefem Einfühlungsvermögen und großer Menschenkenntnis, heraus kommen Erzählungen, von denen man immer mehr und mehr haben möchte. Zu meinem Bedauern hat er in einem Interview gesagt, er müsse jetzt etwas ganz anderes schreiben. Ich bin sicher, egal was dabei herauskommt, es wird gut werden und ich erwarte es mit Ungeduld.

Ferdinand von Schirach
Schuld
Piper € 17,95
978-3-492-05422-5

ttt portraitierte Schirach anlässlich des Vorgängerbandes „Verbrechen“:

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