Hendrik liest Siebzehn Silben Ewigkeit von Denis Thériault
Bilodo ist ein junger alleinstehender Postbote in Montréal, der keine wirklichen Freunde, dafür eine Hochhauswohnung, einen Goldfisch und ein geheimes Hobby hat: regelmäßig nimmt er private Briefe mit nach Hause, öffnet, kopiert und liest diese, bevor er die Originale weiterbefördert.
„Bilodo fing auf diese Weise etwa dreißig Korrespondenzen ab, die zusammen eine Art Seifenoper mit den verschiedensten Handlungssträngen ergaben. Vielmehr die eine Hälfte einer Seifenoper, deren zweite Hälfte, nämlich die <ausgehende Post>, ihm leider nicht zugänglich war. […]
So war es. Bilodo lebte durch andere. Der Schalheit des realen Lebens zog er seine ungleich farbigere, an Emotionen so viel reichere innere Fernsehserie vor, und von sämtlichen heimlichen Briefen, die dieses faszinierende kleine, virtuelle Universum ausmachten, beflügelten und bezauberten ihn keine so sehr wie die von Ségolène.“
Ségolène lebt auf Guadeloupe, und die Briefe, die sie häufig mit dem in Bilodos Zustellbezirk wohnenden Japanexperten Grandpré austauscht, bestehen ausschließlich aus kleinen Gedichten, japanischen Haikus. Außer diesen Gedichten und einem Bild, das Ségolène an Grandpré geschickt hat, weiß Bilodo nichts von ihr, und doch (oder gerade deswegen) verliebt er sich in sie.
Eines Tages stirbt Grandpré, und Bilodo gewahrt mit Schrecken, dass dadurch seine einzige Verbindung zu Ségolène abbrechen muss. Also beschließt er, Grandprés Identität anzunehmen …
Thériaults schmaler Roman hat selbst ein wenig von einem Haiku, sofern das einem Roman eben möglich ist. Alles ist in sehr sorgfältig gesetzten, Überflüssiges aussparenden Worten erzählt. Dialoge gibt es kaum. Eine Erzählung mit einem anderen Thema würde dadurch rasch holzschnittartig wirken. Hier jedoch lässt dieser eher strenge Konstruktionsrahmen die Strukturen des Erzählten tatsächlich klarer hervortreten, inklusive der intimen Wärme der Korrespondenz selbst, die in die Erzählung eingefügt ist:
„So reist du in mir
sieh dir meine Landschaft an
schwimm in meinem See“
Der Roman erzählt jedoch nicht nur eine Geschichte von einer ganz besonderen Art von Liebe, er ist auch selbst eine Liebeserklärung: an das Wort – insbesondere das Handgeschriebene und Versendete –, an die japanische Dichtung, und, womöglich am meisten von allem, an den zeit- und handlungsbefreiten Augenblick der lyrischen Inspiration, der jeder wahren Dichtung vorausgehen muss.
Thériault hat offenbar einen solchen Moment gehabt, bevor er „Siebzehn Silben Ewigkeit“ schrieb, und so ist dies ein vollkommener kleiner Kreis von einem Roman für einen stillen Nachmittag jenseits des niemals fertigen Alltagsgekrakels, für solche, die eigentlich nur Gedichte und keine Romane lesen, womöglich jedoch auch für solche, die eigentlich nur Romane und keine Gedichte lesen. Ich werde damit das tun, was man, wie ich finde, auch mit einem gelungenen Haiku tun sollte: es nach dem Lesen und Genießen weiterverschenken, um den Moment zu teilen.
„Siebzehn Silben Ewigkeit“ erschien 2009 als dtv-Taschenbuch 24743, hat 154 Seiten und kostet 13,90 €.