Zeit: das 25. Jahrhundert. Ort: Die Neue Republik fern der Erde. Eine monarchistische Militärdiktatur hat sich entschieden, seinen Bürgern technische Errungenschaften vorzuenthalten. Statt der gewünschten „guten alten Zeit“ aber entsteht eine Art Steampunk-Zarenreich – mit allen Schattenseiten. Dann geschieht auf einer unterdrückten Kolonie, Rochards Welt, das Undenkbare: Es regnet Telefone – das „Festival“ ist eingetroffen und löst unbeschreibliches Chaos aus. Und während sozialistische Revolutionäre jetzt ihre Zeit auf Rochards Welt gekommen sehen, bereitet sich die Neue Republik auf einen Krieg vor, den sie weder verstehen noch gewinnen können. Dabei wollen sie auch eine geächtete Technologie einsetzen: Zeitreisen. Daran scheinen auch zwei Menschen von der Erde, die Geheimagentin Rachel und der Ingenieur Martin, nichts ändern zu können …
Aber gehen wir vier Jahrhunderte zurück: Aus weit entwickelten Computernetzwerken war im 21. Jahrhundert eine künstliche Superintelligenz, das “Eschaton” entstanden. Es teleportierte den größten Teil der Menschheit auf viele weit entfernte, bewohnbare Planeten. Und es dauert Jahrhunderte, bis die Menschen auf der Erde und die unfreiwilligen Auswanderer – zum Beispiel auf dem Planeten der Neuen Republik – wieder stabile Zivilisationen entwickeln. Das Eschaton hält sich im Hintergrund und wacht darüber, dass die Menschen keine Technologie entwickeln, die seine eigene Existenz gefährden könnten. Zeitreisen zum Beispiel.
„Das Eschaton hält ganz und gar nichts von Zeitreisen, vermutlich deswegen nicht, weil dadurch seine eigene Existenz vernichtet werden könnte, falls die Dinge außer Kontrolle geraten. Deshalb ist es denkbar, dass Sie es hier nicht nur mit dem Festival, sondern auch mit einer höheren Gewalt zu tun bekommen.“ (S. 165)
Während die Generäle der Neuen Republik mit ihrem größten Raumschiff aufbrechen, nimmt „das Festival“ Kontakt auf mit der Bevölkerung auf Rochards Welt:
„Unterhalte uns, dann geben wir deiner Familie zu essen.“ Rudi zermarterte sich das Hirn, der er hatte keine Ahnung, wie er hatte keine Ahnung, wie er diesen ausgefallenen Wunsch erfüllen sollte, doch dann blinzelte er: Die Lösung lag ja auf der Hand! Er hielt das Telefon an den Mund und flüsterte: „Soll ich euch eine Geschichte erzählen?“ (S. 8)
Aber was ist das für eine Macht, das hier „unterhalten“ werden möchte und Informationen gegen alles tauscht, was man sich nur erträumen kann? Ingenieur Martin erklärt es:
„Das Festival besteht nicht aus Menschen, hat nicht einmal entfernt mit der Menschheit zu tun. […] Man kann dem Festival nicht den Krieg erklären, genausowenig wie man dem Schlaf den Krieg erklären kann. Das Festival ist ein selbst-replikatives Informationsnetz. Wenn die Sonde in irgendein System eintritt, baut sie ein Netzwerk der Kommunikation auf, das sich von selbst weiter ausdehnt und alle bewohnten Welten dieses Systems integriert. Sie zieht alle Informationen, die sie bekommen kann, aus der Zivilisation, die sie ins Visier genommen hat, und produziert weitere Sonden. Diese Sonden führen einige Parasiten mit sich, gespeicherte Lebensformen, die Körper herausbilden und sich darauf herunterladen, sobald sie einen Bestimmungsort erreichen …“ (S. 431)
Konkret heißt das für die Menschen auf Rochards Welt: Man kann sich von den Wesen an den Telefonen alle Wünsche erfüllen lassen. Sofort bricht natürlich das gesellschaftliche Leben zusammen, denn zum einen muss niemand mehr arbeiten, niemand mehr etwas kaufen. Zum anderen stellen sich viele Wünsche als gefährlich heraus:
„Man denke nur an den Kulaken, der sich eine goldene Eier legende Gans gewünscht hatte. Ein ganz wunderbares Tier, bis man es an das Messgerät eines Eisenbahners hielt und die Unmenge von Ionenstrahlen registrierte, die unsichtbar von dem nuklearen Stein des Weisen im Gänsemagen ausströmten. Und auf die Idee der Messung kam man sowieso erst dann, wenn man das ewige Blut im Stuhl nicht mehr ertragen konnte und einem das Haar büschelweise ausfiel.“ (S. 291)
Charles Stross hat mit „Singularität“ seinen ersten Roman vorgelegt. Er wartet gleich mit zwei sehr ungewöhnlichen Einfällen auf: dem Eschaton und dem Festival. Mit dem Eschaton beantwortet er eine Frage, die viele SF-Autoren verzweifeln lässt: Wieso gibt es auf so vielen Planeten Menschen? Und er etabliert das Eschaton als mysteriösen Auftraggeber der Romanhelden. Das Festival schließlich ist eine der verblüffendsten Ideen überhaupt: Eine Informationsvernetzungsmaschine, die wie ein Virus bewohnte Welten infiziert und – wenn sich das möderische Chaos gelegt hat – eine funktionstüchtige Kommunikationsinfrastruktur zurücklässt. Völlig ohne ethisches oder moralisches Koordinatensystem erweist sich das Festival grotesk und grausam, wenn es eine so genannte kulturelle Singularität auslöst:
„Eine Singularität – ein historischer Scheitelpunkt, bei dem die Rate von Veränderungen exponentiell ansteigt und in kürzester Zeit auf das Unendliche zusteuert – ist eine schreckliche Sache, wenn man sie selbst erleben muss.“ (S. 209)
Ein sehr empfehlenswerter Roman, der nicht nur mit ganz besonderen Ideen aufwartet, sondern auch als spannender Thriller mit politischen und wirtschaftsphilosophischen Untertönen überzeugt. Seinen Charakteren könnte Stross vielleicht noch mehr Tiefe gönnen und auf die (seltenen) Sex-Szenen sollte er besser ganz verzichten. Trotz kleiner Schwächen liegt der Vergleich mit Iain Banks nahe. Das ist zwar nicht die gleiche Liga, aber zumindest der gleiche Sport.
Meine Besprechung des ebenso lesenswerten Nachfolgebandes „Supernova“ gibt es hier.
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Dirk Kretschmer geht in seiner sehr informativen Buchkritik auf die politischen Hintergründe ein:
„So dockt er mit dem bekannten SF-Motiv der Materiereplikatoren an die Freie-Software-Bewegung an, die auf einen öffentlich zugänglichen Quellcode zur Weiterentwicklung von Software setzt und mit Produkten wie Linux oder Mozilla Firefox bekannt geworden ist. Dabei greift der IT-Insider Stross auf das Topthema des offensiv politischen Teils dieser Bewegung – wie etwa Oekonux – zurück: die Potentiale, die dieses Prinzip zur Überwindung der kapitalistischen Überfluss- und Mangelgesellschaft haben kann.“
Molochronik erklärt kurz und bündig:
„Story, Ton und Rhythmus gefallen mir bisher ganz gut. Herrlich politisiertes und großes Setting. Ideale SF für die Attac-Babys und Linksrück-Träumer, die von Stross was lernen könnten in Sachen »Sehr links druff sein und doch Humor besitzten«.“
Im SF-Magazin ein Interview mit dem marxistisch angehauchten linksintellektuellen Autoren Stross und ein fetter Verriss von Dietmar Dath.