China – aufstrebende Macht und Gastgeber der Olympischen Spiele: Im Spannungsfeld zwischen Menschenrechtsverletzungen, Doping und einer faszinierenden Kultur schreiben die SchönerDenker Briefe in die chinesische Gegenwart.
Ein Brief in die chinesische Vergangenheit … und Gegenwart
Hochverehrter Song Jiang,
verzeiht mir Unwürdigem, wenn ich mich in dieser so derben und prosaischen Art an Euch wende. Lebtet Ihr doch in einer Zeit und einer Kultur, in der unter Kaiser Huizong die dichterischen Künste Chinas eine weitere von vielen Blütezeiten erfuhren. Zugleich jedoch lebten die Chinesen des (unserer Zeitrechnung nach) 12. Jahrhunderts unter eben diesem politisch schwachen Kaiser in einer Ära, in welcher der korrupte Adel das Land ausblutete und zahlreiche Fehlentscheidungen der Regierung das eigentlich reiche und fruchtbare Land ins Elend zu stürzen drohten. Kaum jemand wagte es, sich gegen die Unterdrücker aufzulehnen. Doch dann – so will es die Legende wohl jeder Kultur, die solche Zeiten kennt – kam ein Mann, der wegen seiner Integrität in Konflikt mit diesem System geraten musste, zum Abtrünnigen erklärt wurde, mutige Getreue um sich scharte und den scheinbar aussichtslosen Kampf gegen die Herrscherwillkür aufnahm, den Reichen ihre Reichtümer (und manchmal das Leben) stahl und den Armen Brot und Hoffnung gab. Und dieser Mann – damals und für Eure Zeit – wart Ihr.
Zumindest steht Euer Leben so in den alten Schriften verzeichnet, besonders in der lange nach Eurem Tode niedergeschriebenen „Wasserufergeschichte“, die von Eurer Zeit und von Euren Taten berichtet. Wir kennen sie unter dem Namen „Die Räuber vom Liang Schan Moor“, und vielleicht entlockt es dem ernsten und doch gütigen Antlitz, das Euch darin zugeschrieben wird, ein Lächeln, wenn ich Euch berichte, dass dieses Werk heute, fast 900 Jahre später, zu den vier unsterblichen Buchklassikern Eurer Kultur gezählt wird.
Es ist vor allem eine zeitlos spannende Abenteuergeschichte – natürlich, denn Ihr habt mit Euren Getreuen ein mehr als abenteuerliches Leben geführt, oben in Eurer Bergfeste in Shandong, im ständigen Kampf gegen die ungleich zahlreicheren kaiserlichen Schergen.
Zugleich jedoch ist es auch eine Geschichte, die uns von Eurer Zeit erzählt. Fraglos wissen wir Barbaren aus dem fernen Nordwesten wenig von Eurer Art. Die Beschreibung Eurer Kultur, Eurer Zeit und Eures Alltags sind in der „Wasserufergeschichte“ für uns wohl ebenso spannend wie die darin erzählten mutigen Taten. Immerhin sollte es nach Eurem Tod noch etwa 100 Jahre dauern, bis der erste Europäer (ein Reisender namens Marco Polo) das chinesische Kaiserreich erblickte.
In Europa vergleicht man Euch gelegentlich mit einer uns vertrauteren Legende namens Robin Hood, und Ihr dürft meiner Versicherung Glauben schenken, dass dieser Vergleich Euch keinen Kummer bereiten muss.
Unwillkürlich frage ich mich, wie ein Mann wir Ihr wohl das China der Gegenwart empfinden würdet, und fast bin ich mir gewiss: es würde Euch gehörig missfallen. Zwar gibt es längst keinen Kaiser mehr und keine selbstherrlichen Adligen, aber die verachtungsvolle Arroganz der Regierenden den Regierten gegenüber, die ist leider geblieben. Ebenso bekannt kämen Euch die blindwütigen Attacken eines Staatsapparates gegen alle seine Kritiker vor. Und vielleicht hättet Ihr das Bedürfnis, aufzustehen und allen Gästen aus fernen Ländern, die gerade am Hofe der solcherart Regierenden weilen, zuzurufen: „Geht heim! Ich bitte Euch: geht heim! Gerne würden wir Euch die Gastfreundschaft unseres Landes bieten, aber leider herrschen Unordnung und Zwietracht unter unserem Dach, und wir sind nicht bereit dafür, Gäste zu bewirten. Erst müssen wir unser Haus in Ordnung bringen.“
Zwar werden – das gilt für Eure Zeit so wie für unsere – die Chroniken und Geschichtsbücher oftmals von den herrschenden Siegern geschrieben, die Geschichtenbücher erzählen jedoch oftmals die wesentlicheren Dinge, und sie lassen sich auch nicht so leicht verfälschen. Vielleicht ist das die wichtigste Geschichte, die in Erzählungen wie der Eures Lebens steckt und nicht stirbt, so alt die Erzählung selbst auch werden mag: dass es Menschen gibt und geben kann, die in solchen Zeiten aufstehen und sagen: Nein, es ist nicht alles in Ordnung.
Ich beende meinen Brief mit einer Verbeugung über die Jahrhunderte hinweg. Ihr seid lange schon tot, und vielleicht hat es Euch in der Weise, in der von Euch erzählt wird, überhaupt nie gegeben. Aber wie schön ist es doch, dass wir uns dennoch begegnen können: Ihr die Hand am Schwert, und ich die Hand am Buch.
Ich wünsche Euch zahlreiche Glückssterne.
Hendrik Schulthe,
Unwürdigster Adept in den Tempeln (anfalls-)weiser Erkenntnis