Hendrik liest Die Welt ist nicht genug. Reisen in die virtuelle Realität von Tim Guest
Ein bekannter T-Shirt-Spruch lautet (frei übersetzt):
„Meine Freunde sagen, Online-Rollenspiele hätten mir mein Leben weggenommen. Ich sage: Blödsinn, ich hab‘ doch noch drei Extraleben.“
Mit genau diesem Phänomen beschäftigt sich der britische Journalist Tim Guest und liefert uns eine gründlich recherchierte Reportage aus den virtuellen Welten von World of Warcraft, Second Life und zahlreichen anderen Plattformen für die digitale Selbstneuerfindung. Ob man sich in den weitläufigen Szenarien des WoW einen Cha (kurz für Charakter) kreiert und sich allein oder im Verbund mit anderen Spielern, die u.U. auf einem völlig anderen Kontinent sitzen, auf Abenteuersuche begibt, oder ob man sich in Second Life ein zweites Leben aufbaut, einen neuen Körper erschafft, eine frei gewählte Identität, eine (fast) allen Regeln enthobene Traumexistenz: Die virtuellen Welten machen’s möglich.
Guest macht sich zum selbstkritischen Reiseführer durch Second Life, trifft sich mit realen und virtuellen Personen, und versucht, einerseits die unendlich vielfältigen Möglichkeiten, andererseits auch die engen Begrenzungen der virtuellen Realitäten darzustellen. Er unterhält sich mit der erfolgreichsten Immobilienmaklerin und auch mit dem größten Unruhestifter aus Second Life (denn auch die virtuelle Anarchie gibt es längst), stellt ihre Motive und Sichtweisen gegenüber, und ergänzt all das durch seine (manchmal etwas konfus eingeflochtene) persönliche Perspektive. Diese spart auch die bekannten Schattenseiten nicht aus, die es mit sich bringt, wenn jemand viel Zeit und Geld in ein zweites Leben investiert, nämlich dass das erste Leben oft darunter leidet und mehr und mehr in den Hintergrund tritt: Der Verlust einer Spielexistenz trifft irgendwann mehr als der Verlust einer realen Partnerschaft; der Gang weg vom Computer hin zur Küche scheint irgendwann weniger dazu geeignet, die Bedürfnisse zu erfüllen, als der Zug an einer virtuellen Zigarette.
Ein anderer Teil des Buches beschäftigt sich mit den virtuellen Kriegsszenarien, die längst weit über das Hit-’n-Run-Niveau hinausgehen und komplexe militärische Strategiesimulationen auf realen Schauplätzen bieten – Geiselbefreiungen auf wirklichen Flugplätzen, hautnahe Konfliktsituationen an militärpolizeilichen Grenzposten, Einsätze bei Terroranschlägen, Nahkampf. Es gibt lt. Guest natürlich die bekannte Meinung, welche die Ein- und Ausübung virtueller Gewalt grundsätzlich ächtet und die Hemmschwelle für das Ausüben realer Gewalt deutlich herabgesetzt sieht. Und die Schilderung, WER eigentlich mittlerweile alles diese Simulationen entwickelt und benutzt – allen voran das U.S.-Militär, das Kriegssimulationen längst zu einem wesentlichen Bestandteil seiner Rekrutierungs- und Ausbildungsprogramme gemacht hat – kann durchaus erschrecken.
Zugleich klingen jedoch auch jene Stimmen glaubwürdig, die in den immer perfekter werdenden Konfliktszenarien ein konstruktives Potential dafür sehen, selbst mit den erschreckendsten Extremen besser fertigzuwerden: das Undenkbare wird denkbar, das Unübbare übbar. Ein U.S.-Soldat, der auf diesem Wege virtuell schon sein Verhalten während einer Geiselnahme mit Zivilisten im Irak durchspielen konnte – wird er im konkreten Fall besser (weil vorbereiteter) oder schlechter (weil realitätsentfremdeter und gewaltbereiter) reagieren? Guest lässt beide Stimmen zu Wort kommen, ohne selbst Stellung zu beziehen, und das macht das Buch ausgewogen.
In weiteren Kapiteln geht es um die anderen naheliegenden Themen im Zusammenhang mit Second Life. Angenehm unvoyeuristisch und zugleich sehr offen beschäftigt sich Guest mit der Frage, was eigentlich an virtuellem Sex so reizvoll sein soll (und findet es wohl auch nicht recht heraus); an einer anderen Stelle hat er ein sehr intensives Gespräch mit einer Gruppe Schwerstbehinderter, die durch die Führung eines gemeinsamen Avatars eine Freiheit erlangt haben, die ihnen im wirklichen Leben verwehrt bleibt. Und so fort, und so fort.
Wer (wie ich) niemals auch nur in Versuchung war, sich in WoW einen Helden oder in Second Life ein neues besseres Avatarselbst zu kreieren, liest sich erstaunt, fasziniert und ab und an etwas erschrocken durch Guests Berichte von den virtuellen Welten, in welchen die Möglichkeit, selbst die verrücktesten und kindischsten Phantasien Wirklichkeit werden zu lassen, zuweilen auch mit den unvirtuellsten Realitäten kollidiert: denn auch die mentalen Kleinkrämer, die geistigen Gebrauchtwagenhändler, die Steuereintreiber der Seele, die heimlichen Mafiosi haben ja alle, alle Internetzugang. Und so bleibt mir – besonders nach der Lektüre über die komplexen ökonomischen Verwicklungen innerhalb des Second Life, von deren vertrackten Verbindungen wiederum zur Realwelt ganz zu schweigen – nur der zwingende Eindruck, dass das Zweite Leben schon längst dabei ist, genau so zu werden wie das erste, weil wir ja gar nicht anders können als immer nur uns selbst dorthin mitzunehmen. Bis der erste Second Life-Bewohner verzweifelt ausruft: wann kommt endlich das Dritte Leben, das uns von diesem Zweiten Leben erlöst?
Auch Guest schließt seine Reportage mit zwiespältigen Gefühlen:
„Die virtuellen Welten sind fähig, uns jene Erlösung zu versprechen, uns zu bezaubern, uns die eigene Person vergessen zu lassen, bis es zu spät ist. Sie können uns darin bestärken, das Reale zugunsten des Virtuellen zu vernachlässigen, bis unser Leben in den Ruin abgleitet. Andererseits können die virtuellen Welten etwas bieten, das uns fehlt: einen Balsam für unsere Wunden, eine andere Zuflucht als die des Supermarktes für unsere traurigen Herzen.“
Früher mussten – wie bei Peter Pan – Träume fliegen lernen. Heute gibt es vierspurig ausgebaute digitale Asphaltstraßen nach Nimmerland. Ich bin Tim Guest mit Staunen im Blick ein Stück des Weges gefolgt, habe Neues und Spannendes und Interessantes erfahren (z.B. wusste ich nicht, dass Computercodezeilen – aus denen ja jede virtuelle Realität besteht – juristisch wie erzählende Prosa gehandhabt werden), und bin jetzt aber doch ganz froh, den Seitenweg in eine völlig andere Richtung einschlagen und Second Life da lassen zu können, wo es sich abspielt, nämlich in den Köpfen und Rechnern anderer Leute. Der Fußpfad zur eigenen Phantasie ist mir doch lieber.
Die Welt ist nicht genug. Reisen in die virtuelle Realität erschien 2008 bei Rogner & Bernhard (Vertrieb Zweitausendeins Versand, Frankfurt).