Zum 40-jährigen Geburtstag des Klassikers „Solaris“
von Stanislaw Lem
Der Roman Solaris erschien erstmals 1968 in seinem Ursprungsland Polen und 1972 erstmals in deutscher Sprache. Er etablierte seinen Schöpfer Stanislaw Lem endgültig als eine der kraftvollsten intellektuellen und poetischen Stimmen nicht nur der Science Fiction, sondern der modernen Weltliteratur. Das Buch wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und zweimal – 1972 von Andreij Tarkovski und 2002 von Stephen Soderbergh – verfilmt. Zum 40. Geburtstag des Klassikers lesen und bestaunen Thomas und Hendrik das Werk des genialen Polen und die filmischen Umsetzungsversuche noch einmal neu. Zuerst Hendrik:
Erster Teil: Das Buch
Zunächst: wovon handelt der Roman? Die Menschheit befindet sich im Raumfahrtzeitalter. Bei ihren Versuchen, auf fremden Welten intelligentes Leben zu finden, ist sie auf die merkwürdige Welt Solaris gestoßen, einen von einem einzigen gigantischen organischen Ozean umspannten Planeten, der den Forschern mit unerklärlichen physikalischen Phänomenen Rätsel über Rätsel aufgibt. In der Umlaufbahn des Planeten befindet sich eine Raumstation, von der aus man die Geheimnisse des Ozeans erforscht. Der Psychologe Kris Kelvin, Ich-Erzähler des Romans, wird auf diese Orbitalstation entsandt, um routinemäßig nach den drei dort befindlichen Wissenschaftlern zu sehen. Er findet ein Chaos vor, und einer der Wissenschaftler hat sich kurz vor seiner Ankunft das Leben genommen. Die anderen beiden – Snaut und Sartorius – wirken verstört, verhalten sich Kelvin gegenüber äußerst rätselhaft und feindselig und machen mysteriöse Andeutungen:
„Wart“, sagte er, als ich mich zur Tür wandte. Er schaute mich eigentümlich an. Ich sah: was er sagen wollte, das wollte ihm nicht über die Lippen.
„Wir waren drei, und jetzt mit dir sind wir wieder drei. Kennst du Sartorius?“
„Wie dich, vom Foto her.“
„Er ist oben im Laboratorium, und ich nehme nicht an, daß er vor der Nacht von dort herauskommt, aber … jedenfalls erkennst du ihn. Wenn du sonst jemanden sehen solltest, verstehst du, nicht mich und nicht Sartorius, verstehst du, dann…“
„Was, dann?“
„Dann … mach gar nichts.“
Aber sehr schnell merkt Kelvin, was sein Kollege Snaut gemeint hat, denn in der Station manifestieren sich Menschen, die gar nicht dort sein können. Kelvin trifft unvermittelt auf seine Frau Harey, die Jahre zuvor auf der fernen Erde Selbstmord begangen hat und für deren Tod er sich verantwortlich macht. Offenbar weiß sie weder etwas von ihrem Tod, noch, wie sie auf die Station kommt.
Die drei Forscher gelangen zu dem vorläufigen Schluss, vermutlich Teil eines Experimentes zu sein, bei dem der Ozean von Solaris ihr Unterbewusstsein anzapft und daraus diese Manifestationen formt. Aber wozu? Ist es eine Verhaltensstudie? Ein Kommunikationsversuch? Falls ja, wie kann man eine passende Antwort geben, wenn man die Frage nicht versteht? Den drei Wissenschaftlern gelingt es nicht, hierfür Lösungen zu finden, und so ist jeder von ihnen darauf zurückgeworfen, mit diesen intimen Konfrontrationen so gut wie möglich zurechtzukommen. Der Erzähler Kelvin erfährt nie, welche „Gäste“ die beiden anderen Bewohner der Station haben, denn Sartorius verlässt fast nie sein Labor, und Snaut flüchtet sich in den Suff. Und er selbst verstrickt sich immer mehr in die Verbindung mit Hareys Ebenbild, das ihm nicht von der Seite weicht und so sehr der schuldbelasteten Erinnerung an seine tote Frau entspricht…
Stanislaw Lems Roman umfasst nur wenige Tage Handlungszeit und ist bis auf wenige Szenen ein Kammerspiel innerhalb der Räume der Station. Und doch gelingt es ihm, die sehr persönlichen Momente und Dialoge in ein weites Universum einzufügen, indem er Kelvin seitenlang die Geschichte der Solaris, ihrer Entdeckung und – weitestgehend vergeblichen – Erforschung erzählen lässt. Lem konfrontiert uns mit dem aller hurramenschlichen Eroberermentalität entgegengestellten Gedanken, dass der Mensch gar nicht den Kosmos erobern will,
„wir wollen nur die Erde bis an seine Grenzen erweitern. Die einen Planeten haben voll Wüste zu sein, wie die Sahara, die anderen eisig wie der Pol oder tropisch wie der brasilianische Urwald. Wir sind humanitär und edel, wir wollen die anderen Rassen nicht unterwerfen, wir wollen ihnen nur unsere Werte übermitteln und, als Gegengabe, ihrer aller Erbe annehmen. Wir halten uns für die Ritter vom heiligen Kontakt. Das ist die zweite Lüge. Menschen suchen wir, niemanden sonst. Wir brauchen keine anderen Welten. Wir brauchen Spiegel. Mit anderen Welten wissen wir nichts anzufangen.“
Solaris ist ein nur scheinbar kühler, distanzierter Roman, denn wie überall in Lems Werk (bis hin zu seinen zuweilen durchaus recht abgehobenen Essays) brodelt hier, besonders hier, dicht unter der Oberfläche sorgfältig gesetzter Erzählrhetorik eine große leidenschaftliche Ungeduld, diese rassenpubertäre Suche nach Spiegeln überwunden zu sehen, um für das wirklich Neue, die wirkliche Grenzüberschreitung bereit zu sein. Und vielleicht ist diese Leidenschaft der eine gemeinsame Nenner all der dramaturgisch und stilistisch so verschiedenen wirklich großen Werke jenes literarischen Genres mit dem stärksten Warpantrieb: der Science Fiction.
Lem beendet seinen Roman, ohne dem Leser einen engen, alle anderen losen Gedankenfäden und aufgeworfenen Entwicklungsmöglichkeiten negierenden Handlungs- und Deutungsweg aufzuzwingen. Er überläßt ihn, wie auch seinen Protagonisten Kelvin, der linearen Erwartung, die bevorstehende Zukunft werde sich aus der erlebten Vergangenheit heraus begreifen, ertragen, leben lassen. Und er schenkt uns einen der – für mich ganz persönlich – schrecklichhoffnungserfülltesten Schlussätze der phantastischen Literatur:
„Ich wußte nichts, und so verharrte ich im unerschütterlichen Glauben, die Zeit der grausamen Wunder sei noch nicht um.“
Fortsetzung folgt. Dann dreht sich alles um die Verfilmungen von Tarkowskij und Soderbergh.