Triumph der Einbildungskraft

Jorge Luis Borges und die Essenz ungeschriebener Romane
Vierter und letzter Teil
von Götz Kohlmann

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Podcast 35
Götz Kohlmann nähert sich dem Meister der konzentrierten Form – im vierten und letzten Teil ist er dem „Kriminalschriftsteller Borges“ auf der Spur.

Borges war fasziniert von Detektivgeschichten. Folgerichtig wandte er sich selbst der Kriminalgeschichte zu, allerdings auf seine ureigene Weise. Auch in „Der Tod und der Kompass“ klingen seine zentralen Themen an – die Geheimnisse, die unwissende Menschheit, die Mystik, mit der sie sich aushilft. Wie auch an anderen Stellen seines Werks ließ sich Borges von der Kabbala, den jüdischen Geheimlehren, inspirieren. Allein der Gangstername „Red Scharlach“ deutet aber an, dass Borges hier in „Der Tod und der Kompass“ genüsslich auch mit Elementen der Trivialliteratur spielt, die ihm gut vertraut war.

Überhaupt scheint er eine diebische Freude daran gehabt zu haben, die disparatesten Motive aus Literatur, Philosophie, Wissenschaft und Religion aller Zeiten und Kulturen zusammenzubrauen. Religionen und Philosophien hielt Borges für Zweige der phantastischen Literatur und ein Fabelplanet wie „Tlön“ hatte für ihn nicht weniger Wahrscheinlichkeit als die Weltbilder von Marx, Buddha, Platon oder des Vatikan, so die Herausgeber Gisbert Haefs und Fritz Arnold in ihrem Nachwort zur Taschenbuchausgabe der „Fiktionen“.

Er hätte gewiss ein Bestseller-Autor werden können, alle Ingredienzien sind da, doch Borges zog es vor elegante, apollinische Geschichten zu schreiben. In einem späteren Essay erläuterte er seine Methoden in „Der Tod und der Kompass“:

„Um jeden Verdacht auf Realismus zu entkräften, verwendete ich entstellte Namen und ließ die Geschichte in irgendeinem kosmopolitischen Rahmen ohne jede spezifische Geographie spielen.“

Kurz sei der Inhalt umrissen: Drei Morde geschehen, an drei verschiedenen Orten einer imaginären Stadt, die Züge von Buenos Aires aufweist. Der Detektiv Eric Lönnrot ist dem Täter auf der Spur. Was die Opfer der Verbrechensserie verbindet, ist unklar. Am Tatort stoßen die Ermittler jeweils auf eine Inschrift:

„Der erste (zweite etc.) Buchstaben des NAMENS ist artikuliert worden.“

Lönnrot erhält schließlich mysteriöse Hinweise auf einen vierten Ort, wo ein weiteres Verbrechen stattfinden könnte. Er begibt sich zu der angegebenen Villa weit im Süden der Stadt, überzeugt den Täter in der Falle zu haben. Doch in der Falle sitzt Lönnrot selbst. In dem einsamen, labyrinthischen Anwesen wird er von Red Scharlachs Männern überwältigt. Lönnrot glaubt, die Morde hätten ein mystisch-religiöses Motiv, Scharlach sei auf der Suche nach dem unaussprechlichen Namen Gottes. Doch Scharlach hatte alles nur eingefädelt, um sich an Lönnrot rächen zu können, denn dieser hatte Jahre zuvor Scharlachs Bruder verhaftet. Die äußere Handlung klingt nach einer trivialen, abstrusen Kolportagestory, doch sie ist nur die mit Ironie durchwirkte Folie über einer weiteren metaphysischen Spekulation.

Borges vermochte es, das Vergnügen des Lesers und seinen eigenen hohen künstlerischen Anspruch gleichermaßen im Auge zu behalten. Um nur eine annähernde Vorstellung der Vielseitigkeit seiner Prosatexte zu geben, sei erwähnt, dass berühmte Erzählungen wie „Der Süden“ (in der ein junger Mann mit dem Tod konfrontiert wird, als er erstmals die Traumwelt der Bücher beiseite lassen und sich dem Leben öffnen will) oder „Emma Zunz“ (in der eine junge Frau auf monströse Weise Rache für das Unrecht nimmt, das ihrem Vater widerfahren ist) zwar surreal, traumähnlich ablaufen, jedoch ohne genuin Phantastisches auskommen und sich trotz ungeheuerlicher Wendungen auf dem Boden möglicher Alltagserfahrungen bewegen.

Wie Chaplins Tramp, der den Schuh verzehrt als sei es ein Festtagsbraten, glaubte Borges an den Triumph der menschlichen Einbildungskraft über die Wirklichkeit, deren Zumutungen er, ein Schopenhauer-Leser wie Chaplin, eine gelassene Schicksalsergebenheit entgegenhielt. Er weiß, dass er über den Büchern das eigentliche Leben versäumt, ja dass er es nicht einmal mit seiner Sprachartistik zu erfassen vermag. Und wie der mittelalterliche arabische Gelehrte Averroes, in dessen Gestalt er sich in der Erzählung „Averroes auf der Suche“ selbst porträtiert hat, spürt er in seiner Studierkammer zwar die Schönheit des Lebens draußen, doch selbst in der Not vermag er die ihm vom Leben angebotene Hilfe nicht zu erkennen; er sucht Zuflucht bei den Büchern, obwohl das Spiel der Kinder im Hof ihm die Lösung seiner Fragen offenbart.

Borges macht den Leser staunen, denn er selbst hielt das Erstaunen für wahrhaftiger als die Erkenntnis, er öffnet den Blick für die wundersame, abenteuerliche, märchenhafte Welt, in der wir trotz aller Wissenschaft und aller Technik (die ja ein Teil jener Welt sind, wie Borges möglicherweise hinzugefügt hätte) noch immer leben und für immer leben werden. Viele der Erzählungen haben einen Plot, der mühelos einen 700-Seiten-Roman tragen würde. Es findet sich kaum ein Satz, der nicht Knotenpunkt in einem dichten Netz vielfältigster Verweise wäre. Die Erzählungen wirken wie die Essenz, das Konzentrat ungeschriebener Romane und sind doch nur in der vorliegenden Form, als Kurzgeschichte, vollendet. Kritikern hielt Borges übrigens folgendes entgegen: sie sollten ihm doch ihre Beschwerden vorher einsenden, er habe sich schon immer heimlich danach gesehnt, unter einem Pseudonym eine gnadenlose Tirade gegen sich selbst zu verfassen.

Ein Beitrag in vier Teilen von Götz Kohlmann
Sprecherin: Petra Steck

Lektüre

Jorge Luis Borges
„Fiktionen“, Fischer-TB, 187 Seiten
ISBN: 3596105811; Preis: 8,90 Euro

„Das Aleph“, Fischer-TB, 167 Seiten
ISBN: 359610582X; Preis: 8,90 Euro

„Spiegel und Maske“, Fischer-TB, 243 Seiten
ISBN: 3596105897; Preis: 9,90 Euro

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