Über Romananfänge: Wo wir auch beginnen – wir sind in der Mitte

Während Pu noch Pause macht, erzählt uns Götz von berühmten ersten Worten.

Zweiter Teil

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Nach dem ersten Satz ist die Auswahl schon bei weitem nicht mehr so groß. Denn der zweite Satz wird durch den ersten bedingt, sofern man kein Buch allein aus ersten Sätzen schreiben mag, was eine reizvolle Idee wäre. Dem ersten Satz geht ein Geschehen voraus, von dem der Leser fast immer noch erfahren wird. Er ist insofern eine Ungeheuerlichkeit, weil es in der Realität etwas Vergleichbares selten gibt.

In der Uferlosigkeit des Seins markiert der Autor eine Stelle, von der aus er aufbricht, etwas über dieses Sein zu erfahren. Es ist zunächst eine Erfahrung für ihn ganz allein, an der dann später die Leser teilhaben. Selbst wenn er zu den Autoren gehört, die planen und ihrem Roman ein genau ausgearbeitetes Konzept zugrunde legen, bricht er in ein unbekanntes Land auf und wird unterwegs unerwartete, überraschende Begegnungen haben, die ihn von seinem Plan abweichen lassen werden. Der Roman, wie immer er sich stellt, bildet die Verfassung unseres Lebens ab.

„We are born in the middle of things, we live in the middle of things and we die in the middle of things“,

sagte der amerikanische Schriftsteller Richard Powers einmal. Das heißt, in dem er einen Anfang und ein Ende hat und ein Terrain im Endlosen absteckt, gleicht der Roman jeder einzelnen Existenz. Powers´ Aussage verdeutlicht aber, vor welchen Schwierigkeiten der Schriftsteller steht, denn auch sein Werk wird inmitten der Umstände geboren, wächst inmitten der Umstände und endet inmitten der Umstände.

Wer etwas ganz Großes vorhat, kann es sich leisten, unscheinbar zu beginnen.

„Call me Ismael.“

– so beginnt Herman Melvilles „Moby Dick“.

„Mein Vater war ein Kaufmann.“

– lautet der Anfang von Adalbert Stifters „Der Nachsommer“. Lakonischer, schlichter geht es nicht. Und dennoch kündigen sich gerade in dieser Lakonie zwei Epen mit einem absoluten Anspruch an. Wer so beginnt, man ahnte es, selbst wenn man den Umfang der sich dahinter verbergenden Romane gar nicht kennen würde, der holt ganz weit aus, der schlägt einen riesigen Bogen. Die Klassiker des 19. Jahrhunderts trumpfen auf den ersten Seiten selten auf. Sie pflegen das Understatement. Es kommt auf den ersten Satz an, doch er ist nur ein wichtiger Baustein, so wie alle anderen Sätze des Werkes auch. Melvilles Erzählerstimme sagt: „Ich bin nichts besonderes, einer wie viele, ein sorgloser, fröhlicher Typ, aber ich hab´ was erlebt, was nicht viele erleben, ein ganz großes Abenteuer.“

Vielleicht eine Geschichte von außerhalb der Mitte der Dinge. Oder eine Geschichte, die der Wirklichkeit eine Utopie entgegenstellt. Stifters Erzähler hebt, das ist klar, zur Darstellung eines Lebens und einer ganzen Epoche an, einer untergegangenen oder einer noch kommenden Welt. Für die Lakonie des Anfangs entscheidet sich dann im 20. Jahrhundert auch Marcel Proust:

Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen.“

So schlicht beginnen tausende von Seiten oft hochkomplexer, sich wie Spiralen von Nebensatz zu Nebensatz immer auf die letzte noch zugängliche Erkenntnis hinschraubender, Sätze. Auch in Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ ist es also ein Ich-Erzähler wie bei Melville und Stifter. Nachzuprüfende Zwischen-These: Entscheidet sich ein Autor für die Ich-Perspektive ist der erste Satz in der Regel einfach gehalten.

Tolstois „Krieg und Frieden“  – wäre das nicht ein Kandidat für einen unscheinbaren Auftakt?  Tolstoi, Calvino hat es uns bestätigt, vermittelt den Eindruck, was er zu Papier bringe, sei das Leben selbst, so wie es ist, und daher lässt er auch „Krieg und Frieden“ wie mitten im Leben beginnen. Sein historisches Panorama beginnt auf einer Abendgesellschaft, jemand spricht, in Französisch, wir wissen zunächst nicht einmal wer, so als seien wir selbst Gäste dieser Party und würden diese Worte aufschnappen fühlt es sich an: „Eh bien, mon prince. Genes et Lucques ne sont plus des apanages, des Landgüter, de la famille Buonaparte.“ Fast etwas umständlich, wie Tolstoi uns dann nachreicht, wer da zu wem sprach. Doch das ist Absicht: der Rhythmus des Buches wird vorgegeben, der stete Wechsel zwischen intimer Nähe zu den Figuren und distanzierter historischer Schau, zwischen Subjektivität und Objektivität.

Ganz entspannt und souverän beginnt auch Stendhals „Rot und Schwarz“:

„Die kleine Stadt Verrières zählt gewiss zu den hübschesten der Franche-Comté.“

Kein Zweifel, dass das in den ersten Zeilen beschworene harmlose Idyll nicht trägt und dass dieser erste Eindruck des Reisenden, mit dessen Augen Stendhal das Städtchen und seinen Roman betritt, dem tieferen, ironischen Blick des Autors weichen wird, der in die Abgründe der frühkapitalistischen Gesellschaft schaut, nur dem vorangestellten Motto verpflichtet: „Die Wahrheit, die bittere Wahrheit.“ Der Reisende hat sich denn auch noch nicht lange durch die Straßen von Verrières bewegt, da sehnt er sich schon wieder weg:

„Am Horizont erstreckt sich die Kammlinie der burgundischen Hügel, als wären sie zur reinen Augenweide erschaffen. Bei diesem Anblick vergisst der Reisende die von kleinlichen Geldinteressen verpestete Luft, die ihn langsam zu ersticken droht.“

Jeder Satz taugt als Romananfang, wenn es der richtige ist.

Sollte ich meinen Favoriten unter den schönsten ersten Sätzen der Weltliteratur nennen, so würde ich wohl einen wählen, der in seiner gelassenen Belanglosigkeit kaum zu überbieten ist.

„Die Jefferson Street ist eine stille Straße in Providence.“

Handke selbst fand ihn „blöd“, aber er habe ihm geholfen „hineinzukommen“ ins Schreiben der Geschichte „Der kurze Brief zum langen Abschied“. Es ist ein Kinoanfang wie bei Hitchcock. Eine Folge von Einstellungen: Die Straße, der Platz, das Hotel, die Lobby, der Mann am Empfang, dem Brief und Schlüssel ausgehändigt werden. Manchmal folgt dem ersten Satz noch der eigentliche erste Satz. Er lautet hier:

„Als ich Ende April dort ankam, nahm der Portier zugleich mit dem Schlüssel einen Brief aus dem Schlüsselfach und übergab mir beides.“

Der Anfang zeigt, dass Handke lange geschwankt haben mag, ob er seine Geschichte in der Ich- oder der Er-Form erzählen soll. Diese Entscheidung ist für den Autor oft eine der schwierigsten. In einem Brief an seinen Verleger Siegfried Unseld, der ihn darum bat, sein erstes Leseerlebnis zu schildern, beschreibt Handke wie er als Siebenjähriger zunächst einen Karl-May-Roman mit einem Ich-Erzähler und danach einen mit einer personalen Erzählweise gelesen habe und enttäuscht und verärgert gewesen sei, weil kein „Ich“ auftauchen wollte. Bis zuletzt habe er darauf gehofft. An diesen Schock habe er sich beim Schreiben von „Der kurze Brief zum langen Abschied“ erinnert. Das Wort „Ich“ stehe erst im fünften Satz der Erzählung. Der erste Satz hätte also lauten können: „Als ich Ende April (dort) im Hotel Wayland Manor in Providence ankam, nahm der Portier zugleich mit dem Schlüssel einen Brief aus dem Schlüsselfach und übergab mir beides.“ –  das wäre die konventionelle Variante gewesen. (Interessant wäre es auch, Überlegungen darüber anzustellen, ob der Ich-Erzähler leichteres Spiel beim Leser hat, weil er zu uns spricht und eine unmittelbare Identifikation herstellt.)

Doch es gibt sogar noch einen dritten Anfangssatz in Handkes Amerika-Buch. Es ist der neunte:

„So weit ich mich zurückerinnern kann, bin ich wie geboren für Entsetzen und Erschrecken gewesen.“

Auch das klingt wie ein typischer Handke-Auftakt. Pathetischer, dramatischer, ungeschützter, persönlicher als die anderen Sätze. Und die ihm folgende Kindheitserinnerung wirkt denn auch merkwürdig, wie aus einem anderen Zusammenhang hineinkopiert, vielleicht erst nachträglich, ein Flicken. Die Geschichte wird viel von ihm preisgeben, doch der Autor reflektiert über dieses Preisgeben, hält die Nähe auf Distanz: „Die Jefferson Street ist eine stille Straße in Providence.“

Bei Handke beginnen die Erzählungen häufig mit mehreren gleich gewichteten Sätzen, von denen ein jeder der erste sein könnte. Von großer Schönheit und somit Wahrheit ist der Anfang der Erzählung „Die linkshändige Frau“:

„Sie war dreißig Jahre alt und lebte in einer terrassenförmig angelegten Bungalowsiedlung am südlichen Abhang eines Mittelgebirges, gerade über dem Dunst einer großen Stadt. Sie hatte Augen, die, auch wenn sie niemanden anschaute, manchmal aufstrahlten, ohne daß ihr Gesicht sich sonst veränderte. An einem Winterspätnachmittag saß sie in dem gelben Licht, das von außen kam, am Fenster des ausgedehnten Wohnraums an einer elektrischen Nähmaschine, daneben ihr achtjähriger Sohn, der einen Schulaufsatz schrieb.“


Der dritte Teil folgt am Sonntag, dem 12. Mai 2013.

Text und Podcast stehen unter einer Creative Commons-Lizenz.
Quelle: Götz Kohlmann/SchönerDenken

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