„Anna Karenina“: Unterm Reifrock begraben

Eine Begegnung mit Anna Karenina von Joe Wright
von Heidi Schmidt

Auf den Punkt gebracht hat es Ian McEwan in „Abbitte“ (Atonement): dass das Vorhaben manchmal der Moment der höchsten Erfüllung ist und alles weitere bloß Wunschtraum oder Enttäuschung.

Wie wunderbar ist die Vorfreude des passionierten Fans, wenn er zum ersten Mal die Ankündigung liest, dass eines seiner Dream-Teams des Filmemachens an einem neuen Stoff arbeitet. Joe Wright verfilmt „Anna Karenina“ mit Keira Knightley! Auch Matthew Macfadyen ist wieder dabei, neu im Team Jude Law und das Drehbuch kommt von Tom Stoppard.

Von da an beginnt die Schnitzeljagd im Internet nach Informationen vom Dreh, nach Fotos und Clips. Rezensionen, nein, das nicht. Denn dieses Gefühl soll bitte wieder da sein. Ein Abend in einer anderen Stadt, im Kino eine Neuverfilmung von „Stolz und Vorurteil“, Joe Wright ein damals noch weitgehend unbeschriebenes Stück Zelluloid (oder Datenträger). Und dann dieser Film, eine wunderbare Überraschung. Und danach nochmal anschauen in Originalsprache und dann wieder anschauen. Und dann eine Englandreise zu den Schauplätzen des Films, nach Groombridge (das Haus der Familie Bennett), nach Burghley House (Rosings, Home von Lady de Burgh), nach Stenage Edge, nach Chatsworth – dort steht unter all den Millionen Pfund teuren Marmorstatuen immer noch die Büste von Mr. Darcy – (Pemberley) und zum liebevoll gepflegten Haus von Jane Austen in Chawton.

Aber jetzt „Anna Karenina“, nichts mit so genannten delikaten Originalschauplätzen, es beginnt fulminant in einer atemberaubenden dynamischen Theaterkulisse. In einem Interview sagte Joe Wright, bei der Suche nach geeigneten Drehorten in England hätten ihm die Leute gesagt, ja hier seien schon zwei Filme mit Keira Knightley gedreht worden und bei der Besichtigung von geeigneten Locations in Russland habe er die Auskunft bekommen, hier habe man schon siebenmal „Anna Karenina“ verfilmt. Also das Kontrastprogramm „Anna Karenina“ im Theater, kein leichtes Unterfangen, denn wie wir alle wissen, spielt ein Zug mit einer mächtigen Dampflok eine entscheidende Rolle.

Joe Wright und seine Architekten, Ausstatter und Techniker haben auch im Wortsinne alle Hebel in Bewegung gesetzt, damit das Theater größer, bunter und vielfältiger ist als die Wirklichkeit der Originalschauplätze mit all ihren Beschränkungen, wo Züge Schienen brauchen, Bäume Wurzeln und es eines Filmschnitts bedarf, damit ein Akteur nahtlos von einem Großraumbüro in ein Restaurant oder auf die Pferderennbahn kommt. Hier ist das anders. In einer Sequenz zu Beginn des Films wird uns das prototypisch demonstriert, hastet Oblonsky (Matthew Macfadyen) durch ein vielgestaltiges, sich verwandelndes mobiles Puppenhaus. Wo soll man denn zuerst hinschauen? Hier ein Effekt, dort eine Geschichte, da noch ein brillanter Einfall, schnell, witzig, düster, bunt, Charles Dickens trifft Ariane Mnouchkine.

Für die kontrastierenden Lebensentwürfe der Protagonisten klappen die Kulissen um, Oblonsky in seiner wuseligen Bürokratiemaschine, Karenin (Jude Law) in der Abgeschiedenheit seiner intellektuellen Überlegenheit und Levin (Domhnall Gleeson). Der darf auch mal raus aus dieser Gefangenschaft der Bühne. Er darf auf einen Horizont zugehen, er darf in die Natur. Keira Knightley muss hinter den Schleier. Joe Wright zelebriert dieses Gesicht. Anna Karenina fährt mit der Eisenbahn nach Moskau, dort trifft sie Vronsky (Aaron Taylor-Johnson). Das spielt sie mit diesem schnell herausblitzenden verlegenen Lachen, das wir kennen.

Und dann der große Auftritt in großer Robe. Kostümbildnerin Jacqueline Durran hat Abendkleider gezaubert, die wunder-schön sind und gleichzeitig die Stimmung und die soziale Rolle von Anna zeigen: als treue Ehefrau in verruchtem Schwarz und als Ehebrecherin in weiße Unschuld gehüllt. Das ist alles durchkomponiert, kein Platz für Zufälle. Das soll bei guten Filmen immer so sein, aber als Zuschauer will man es nicht bemerken.

Und dann die erste große Ballszene, choreographiert von Sidi Larbi Cherkaoui. Es sieht aus wie ein genmanipulierter Walzer, die Arme machen Schlangenbewegungen, die Hebefiguren erinnern an Eiskunstlauf. Anna und Vronsky tanzen, zuerst ein Paar unter vielen und dann plötzlich allein, ein Déja-Vu, ein Zitat aus „Stolz und Vorurteil“. Und die Tragödie? Sie nimmt ihren Lauf, aber während sie das tut, muss man staunen oder etwas bemerken oder bewundern. Das Motiv der wiederkehrenden Eisenbahn ist zu registrieren, der stumme Chor der Landarbeiter oder die subkutane Botschaft der Heldin im Unterkleid. Jude Law beweist Mut zur Hässlichkeit und gibt seinem Karenin eine nachdrückliche Präsenz. Keira Knightley hat es schwer, nicht nur als Anna. Manchmal beschleicht einen das Gefühl, dass Joe Wright sie sehr gerne in sehr schönen Kleidern in sehr schönem Licht fotografiert. Selbst wenn der Zug schon über sie hinweg gerollt ist, gibt sie noch die schöne Leiche.

Das artifizielle des Lebens der russischen Oberschicht von damals sollte gezeigt werden. Artifiziell ist das sicher, was Joe Wright in „Anna Karenina“ geschaffen hat. Es wirkt aber genauso wenig russisch wie Greta Garbo oder Vivian Leigh. Viel, viel weniger wäre viel, viel mehr gewesen. Die anrührende Geschichte einer Frau, die ihre gesellschaftliche Position für die Liebe hingibt oder was sie dafür hält, wirkt wie unter schönen aber schweren Reifröcken begraben.

„Anna Karenina“ ist ein faszinierendes Experiment, Film auf einer Theaterbühne einzusperren. Da ist aber so opulent und bildgewaltig, dass die Helden verblassen gegenüber Kulisse, Kleidung, Ausstattung, Tanz. Bei „Stolz und Vorurteil“ und „Abbitte“ hat Joe Wright Facetten von gesellschaftlichem Leben in England gezeigt, die so wirkten, als könne nur er das in dieser Weise tun, originell und universell. Er hat „Abbitte“ und dem dauerverfilmten Stoff „Stolz und Vorurteil“ etwas Neues, etwas Wahrhaftiges hinzugefügt, manches Mal durch Weglassen, durch Konzentration auf die Figuren. Bei „Anna Karenina“ ist ihm das nicht gelungen. Joe Wright- und Keira Knightley-Fans sollten die zwei Stunden trotzdem investieren. Am Ende wünscht man sich aber keine DVD, sondern einen opulenten Bildband zum Blättern.

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Quelle: Heidi Schmidt/SchönerDenken

Anna Karenina
UK/FR 2012, 130 Min., Regie: Joe Wright

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