Kafka: Eine Liebe aus Papier und Schrift (5)

„Ein Pfad in der unbekannten Welt“
Götz Kohlmann entdeckt Kafka neu
Fünfter Teil

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An einem Abend im August 1912, als er Max Brod in Prag besucht, um mit ihm die „Stückchen“ zu ordnen, nämlich die Rowohlt zugesagten Prosatexte, die er für sein erstes Buch ausgewählt hat, lernt er Felice kennen, eine Cousine von Brods Schwager. Und im September schreibt er den ersten Brief nach Berlin, wo Felice lebt. Hunderte weitere sollten folgen. Im Laufe der kommenden Jahre sehen sich Kafka und Felice insgesamt kaum 100 Tage von Angesicht zu Angesicht, doch die durch Schrift erzeugte Bindung führt zu zwei Verlobungen und zwei dramatischen Trennungen.

Unter tausend Frauen wären wohl 999 nicht auf diese Art Beziehung eingegangen, doch Felice war die tausendste. Kafkas „Briefe an Felice“ sind ein Monstrum, etwas, das ihn unheimlich macht. Sie stellen ein Mysterium dar, sind Zeugnisse einer ungeheuren Einsamkeit, Dokumente eines psychopathologischen Falls. Von einer „Ausdrucksmaschine“ sprachen der französische Philosoph Gilles Deleuze und der Psychiater Félix Guattari in ihrem Werk „Kafka. Für eine kleine Literatur“ und betonten den vampirischen Charakter der Briefe. Und Elias Canetti hielt diese Sammlung für das größte unter Kafkas Werken, und er hatte mit seiner Einschätzung gewiss Recht: die „Briefe an Felice“ sind noch vor „Prozess“ und „Schloss“ Kafkas Hauptwerk, sie sind selbst ein Roman.

Kafka, dessen erstes Buch nun bald erscheinen sollte, und der, Selbstzweifel hin oder her, von seiner literarischen Bestimmung überzeugt war, wusste worauf er sich einließ. Die Briefe Flauberts, Hebbels, Kleists und Goethes gehörten zu seinen Lieblingslektüren; er wusste also, dass Briefe bedeutender Autoren nach ihrem Tod veröffentlicht wurden. Er konnte nicht ahnen, was ihm an Ruhm bevorstand, aber allein sein sprachliches Gewissen hatte es ihm seit je verboten belanglose, banale Briefe zu schreiben. Nicht dass er Briefe als literarische Arbeit konzipiert, nicht dass er sich (mit Blick auf die Nachwelt) bewusst um originelle Formulierungen bemüht hätte, doch er schrieb mit höchster sprachlicher Achtsamkeit und die Originalität der Briefe entsprang ohnehin seinem Naturell.

Wie später im „Brief an den Vater“ tritt uns jedoch in den „Briefen an Felice“ neben dem tatsächlichen Kafka zugleich auch eine von ihm geschaffene Kunstfigur Kafka entgegen. Nur – es gab ja einen realen Adressaten, eine lebendige Frau, die diese Briefe ganz und gar nicht als Literatur las, sondern als Mitteilungen eines literarisch begabten, etwas überspannten, romantisch gesinnten Prager Versicherungsbeamten, der sich offensichtlich in sie verliebt hatte. Man schreckt davor zurück, es auszusprechen, doch man könnte diese Liebesgeschichte auch so betrachten: Kafka hat Felice missbraucht, um seine Schreibsucht zu befriedigen.

feliceNiemand kann ihn als Interpreten seiner selbst übertrumpfen, seine intensive Selbstreflexion überbietet mühelos alle Bemühungen der Kafkaforscher: er wusste um diese Deutung seiner Korrespondenz – Kafka, der Schreibjunkie, der das unschuldige, reine Leben für seine Lust missbraucht – und sie quälte ihn. Doch zu jenem Zeitpunkt seines Lebens konnte er nicht anders. In seiner Biografie bezeichnet Stach Kafkas Leidenschaft als „selbstzerstörerischen Versuch, dem Medium Brief die Intimität einer lebendigen Beziehung abzupressen“. Schonungslos, wie er sich selbst gegenüber war, überblickte Kafka das ganze Ausmaß des Dramas.

„Die folgenden Gesänge sind das Werk eines unbekannten Minnesängers aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts.“

Erich Heller, der Herausgeber der Briefe, wünschte sich einst, seine Einleitung mit diesen Worten beginnen zu dürfen. Minnegesang: die Phantastik, die Künstlichkeit, die Distanz, die erhöhende, verklärende Wahrnehmung der Frau, dies alles findet sich auch hier. In ihrer Nähe fühlte er kein Begehren, überschüttete sie aber mit den schönsten Liebesbriefen. Eine gewisse Leere in ihrer Persönlichkeit war ihm gerade recht, konnte er sie doch mit seinen Phantasien füllen. „Knochiges leeres Gesicht, das seine Leere offen trug.“ Das hält er als ersten Eindruck von ihr im Tagebuch fest. Die Nase „fast zerbrochen“, das Haar „reizlos“, das Kinn „stark“: sein Urteil ist nüchtern, „unerschütterlich“ – und es klingt ganz und gar nicht nach der Blindheit des Verliebten, eine „Beschreibung wie ein Fausthieb“, findet Stach.

Er glaubt jedoch, dass Kafka diesen ersten Eindruck gerade deshalb festhielt, weil sich sein Bild von Felice noch im Laufe des Abends radikal verändert hatte, weil er sich, trotz des „negativen“ Anfangsurteils verliebt hatte und darüber erstaunt war. Er hatte sich gewiss verliebt, doch in einer ganz und gar eigenartigen Weise. Zwei Monate nach Beginn des Briefwechsels – er hat sie seit jenem Abend bei Brod nicht wiedergesehen – beginnen seine Schreiben so:

„Liebste, mein Gott, wie lieb ich Dich!“

Doch der Leidenschaft der Briefe vermag die leibhaftige Begegnung nicht stand zu halten. Kaum noch etwas ist dann mehr da, was dem Feuer des Schreibens entsprechen würde. Für Felice war das natürlich eine schwer begreifliche, auf Dauer unerträgliche Diskrepanz. War da nur wieder das seine Leere offen tragende Gesicht, sobald er ihr gegenüber stand, das unerschütterliche Urteil des Anfangs? War ihm die wirkliche Felice gleichgültig, forderte er auch schriftlich noch so viele Details aus ihrem Alltag ein? Alles in allem eine monströse Angelegenheit, wie er sehr wohl wusste:

„Die Süße des Verhältnisses zu einer geliebten Frau wie in Zuckmantel und Riva hatte ich F. gegenüber außer in Briefen nie; nur grenzenlose Bewunderung, Untertänigkeit, Mitleid, Verzweiflung und Selbstverachtung.“

Mehr über Kafka und Felice im nächsten Teil.
Ein Beitrag von Götz Kohlmann
Sprecher: Thomas Laufersweiler

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