Sie kamen in das fremde blaue Land …

Hendrik stellt für die Blogparade <Stelle EIN Buch vor> EIN Buch vor (mit etwas Anlaufschwierigkeiten)

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I.

Ich soll Bücher vorstellen? Klar, kein Prob…, was? Ich soll EIN Buch vorstellen – meinen die das ernst? Als bekennender Angehöriger einer fortgeschritten lesesüchtigen Alphabetisiertensubspezies, der das Vorstellen von zehn Büchern zumeist leichter fällt als das Vorstellen eines einzigen Werkes, muss ich gestehen: das ist eine kleine Herausforderung. Was soll ich da auswählen? Meine Lieblingsbücher habe ich allesamt an dieser oder jener Stelle bereits mehr oder weniger ausführlich thematisiert (und, wie ich hoffe, nicht zerredet), und natürlich begegnen mir ständig neue Werke (einige von ihnen durchaus bemerkenswert). Aber irgendwie streift mein Blick dennoch etwas ratlos über meine Bücherwand: ich will nicht schon wieder zu meinen LieblingsautorInnen Le Guin, Calvino, Pratchett, Lem oder Banks greifen, sonst denkt man noch irgendwann, ich läse gar nichts anderes mehr.

Ich mag auch jetzt nicht recht zu den beiden Büchern schreiben, die ich derzeit in Arbeit habe: einen bislang eher mittelmäßigen alten SF-Roman von James Blish namens „Auch sie sind Menschen…“ (The Seedling Stars, 1959), der immerhin ideal dafür geeignet ist, an einem Sommersonntagmittag entspannt im Garten unter dem Nussbaum eingeatmet zu werden ohne den Anspruch, sich drei Tage später noch an die Handlung zu erinnern. Das andere Buch ist der gerade erschienene Band von Ursula K. Le Guin namens „Cheek by Jowl. Talks and essays on how & why fantasy matters“, aber den habe ich noch nicht durch. Bereits jetzt stecken allerdings schon genügend post its darin, um mir zu signalisieren, dass ich den Band lieber separat rezensieren möchte – und außerdem wollte ich ja an dieser Stelle nicht schon wieder von Le Guin schwärmen.

Bleibt noch das Zufallsprinzip. Ja, genau: eigentlich sollte es mir ja möglich sein, zumindest von den bereits gelesenen Büchern meiner Sammlung sagen zu können, warum ich diese überhaupt noch besitze, denn von mir für schlecht Befundenes habe ich in der Regel bereits kurz nach der Lektüre aussortiert. Ich will ja nicht nur ein Ansammler, sondern vor allem auch ein Würdiger von Büchern sein. Also mache ich doch mal ein Selbstexperiment: ich greife mir meine Exceldatei mit dem Bücherarchiv und wähle völlig zufällig einen der dort erfassten Titel aus, und der wird dann hier und jetzt gnadenlos vorgestellt.

Ich nehme den Einkaufswageneuro, den ich noch in der Jeanstasche habe, und los geht’s: Zahl ist jeweils die obere Hälfte, Geflügel die untere. Zahl, aha, also schonmal nix von jemandem, dessen Autorenname hinter L liegt. Nochmal Zahl, das verengt die Auswahl auf … Sammelwerke (die kommen bei mir vor den Autoren) oder Autoren von Abbott, Edwin A. („Flächenland“ – herrlicher phantastischer Klassiker…) bis Gentle, Mary (kaum erinnerte Fantasy, will ich die echt behalten?!). Schon wieder Zahl, also Sammelwerke oder Autoren Abbott, Edwin A. bis Ceram, C.W. („Götter, Gräber und Gelehrte“ – ein vor langer Zeit für gut befundener Archäologieroman, den könnte ich auf den Stapel <Zum Malwiederlesen> legen, wenn der nicht schon einsturzgefährdet wäre). O weia, wenn das so weitergeht, muss ich am Ende noch mein altes „Schulwörterbuch Deutsch-Französisch“ entstauben und vorstellen, da müsst Ihr dann durch. Ah, Geflügel, Glück gehabt, bleiben Sammelwerke ab „Märchen der Berber“ bis Ceram, C.W. … und so weiter.

Zuletzt lande ich bei einem Buch, das ich zum Glück nicht nur bereits mehrere Male gelesen habe (sonst hätte ich ja wieder von vorne anfangen müssen), sondern bei dem ich vor allem spontan das Gefühl habe: ja, DAS kann ich guten Gefühls vorstellen, denn es ist ein Buch, auf das ich in meiner Sammlung nicht verzichten möchte. Und womöglich ist es tatsächlich auch ein Buch, das sich immer wieder ausführlicher vorzustellen lohnt, damit von nachwachsenden LeserInnen nicht nur der Titel gekannt, sondern auch der Inhalt als reizvoll wahrgenommen wird.

Daran muss man ja bei sogenannten <Klassikern> zuweilen erinnern: dass es nicht nur Einträge auf Pflichtleselisten sind, deren Titel, Autoren und Entstehungsjahr zu kennen einem im Studium, beim Anbalzen von Buchhandelsangestellten des bevorzugten Geschlechts oder beim Trivial Pursuit Punkte einzubringen vermag, sondern die tatsächlich und wahrhaftig zeitlos empfehlenswerte Lesegenüsse bieten. Es gibt natürlich auch Klassiker, die aus ganz anderen Gründen auf solchen Listen stehen als dem, dass es heute noch lesenswerte Bücher wären, aber das ist ein anderes Thema…

Genug der langen Vorrede: ich habe meine alte schwarz-gelb-orangefarbene Diogenes-Taschenbuchausgabe von Ray Bradburys „Die Mars-Chroniken“ in der Hand, einem aus 26 Einzelepisoden zusammengesetzten Roman, der in den Jahren 1946 bis 1958 unter dem Originaltitel „The Silver Locusts“ (später „The Martian Chronicles“) entstand und das als seine zweite Buchveröffentlichung ganz am Anfang der langen Autorenkarriere des 1920 geborenen und immer noch munteren Amerikaners stand.

II.

„Es ist gut, das Staunen neu zu erlernen“, sagte der Philosoph. „Die Raumfahrt hat uns alle wieder zu Kindern gemacht.“

So beginnt das Buch. „Die Marschroniken“ ist die literarische Essenz dieses Staunens, das buchgewordene Destillat des Menschen, der sich als Zeuge des Beginns einer neuen Ära erlebt und nun mit der Naivität dessen, der aus seiner Erfahrung keine Vergleiche ziehen kann zu dem, was sich ihm da eröffnet, zu staunen und zu träumen beginnt.

Der Ohio-Winter des Jahres 1999, mit dem das Buch beginnt, ist eigentlich der geistige Winter des Jahres 1948:

… die Türen waren geschlossen, die Fenster verriegelt, die Scheiben blind durch Frost, Eiszapfen rahmten jedes Dach ein, Kinder rutschten auf Skiern die Hänge hinab, Hausfrauen bewegten sich schwerfällig wie große schwarze Bären durch die Straßen.

1948, so kurz nachdem die Menschheit sich von ihrer erschreckendsten Seite gezeigt hatte, erschien vielen der Ausblick in eine hellere, freundlichere Zukunft versperrt, vereist und überfroren von der jungen Erinnerung, von Verlustmeldungen und Trümmerbildern, von Wochenschauberichten über zerstörte fremde Orte und der Entsetzlichkeit des entfesselten Atoms. Was für ein Frühling konnte diesem zivilisatorischen Winter folgen?

Es konnte, so verspricht die erste Erzählung, nur ein völlig neuer Frühling, eine völlig neue Art von Sommer folgen, ein Sommer, in den völlig neue Türen hineinführen würden, und in dem es Wunder zu entdecken geben würde, die gerade jetzt, mitten in diesem Frost, undenkbar schienen. Aber was man nicht denken kann, das kann man träumen, und es gab und gibt in meiner Leseautobiographie keinen Schreibenden, der auch nur annähernd so magisch wie Ray Bradbury das Gefühl eines intensiv erlebten Sommers herbeizulocken vermag, und wer mir nicht glaubt, der lese seinen Roman „Löwenzahnwein“, den ich hier gleich mitvorstellen würde, wenn nicht … nur EIN Buch, alles klar.

Doch dann strich eine gewaltige Wärmequelle über die kleine Stadt dahin. Eine Sturzflut heißer Luft; es war, als habe jemand eine Backofentür aufgestoßen. Die Hitze wogte zwischen Häusern und Büschen und Kindern. Die Eiszapfen fielen herab, zerbrachen und begannen zu schmelzen. Die Türen flogen auf. Die Fenster wurden hochgeschoben. Die Kinder schälten sich aus ihren Wollsachen. Die Hausfrauen warfen ihre Bärenhaut ab. Der Schnee schmolz und legte die braunen Rasenflächen vom letzten Sommer frei.
Raketensommer. In den offenen, lüftenden Häusern riefen es sich die Leute zu. Raketensommer.

Der magische Schlüssel in den heilsamen Traum, den Bradbury zu erzählen beginnt, ist die Rakete und damit: die Raumfahrt. Natürlich war das eine völlig andere Vorstellung von Raumfahrt, als wir sie heute haben, immerhin begann das, was wir heute Raumfahrt nennen, überhaupt erst 1957 mit dem Start des ersten Sputniksatelliten. Auch davon, wie es dem Menschen im Weltraum ergehen würde, hatte man noch keine rechte Vorstellung, wofür man z.B. ein Gefühl bekommt, wenn man den Film „Der Stoff, aus dem die Helden sind“ (The Right Stuff, 1983) über die Geschichte der ersten menschlichen Ertastung des Außeratmosphärischen anschaut.

Bradbury ist ohnehin kein technischer Erzähler, und daher sind seine Geschichten von den technologieschwelgerischen Abenteuererzählungen eines Jules Verne oder auch eines Hans Dominik sehr weit entfernt. Auch hat Bradburys Mars mit dem Nachbarplaneten z.B. von H.G. Wells nicht viel zu tun: es ist kein Ort der Begegnung mit nichtmenschlichen Schrecken, es ist eine Reflektion all dessen, was dem Menschen bei der Begegnung mit sich selbst an Unerwartetem, Verdrängtem, Wundervollem und Furchtbarem begegnen mag. Er lässt in vielen, teils sehr kurzen und bruchstückhaften Episoden die verschiedensten Menschen – Eroberer, Flüchtlinge, Träumer, Bürokraten, Soldaten und Familien – die Reise zum Mars antreten, so wie in allen Wanderungszügen der Menschheit auch alle Facetten der Menschheit vertreten waren. Gerade das verhindert, dass das Buch als enthoben, esoterisch oder gar als Nachkriegsfluchtliteratur missverstanden werden könnte. Gerade hier ist besonders spürbar, dass – egal wohin er gehen mag – der Mensch stets mit sich selbst konfrontiert ist: wie ein Planet, dessen dunkle Seite man nicht verleugnen kann.

„Die Marschroniken“ ist eine literarische Variation über das, was Stanislaw Lem in einem anderen der ganz großen Klassiker der Raumfahrtphantastik, in dem Roman „Solaris“ seine Hauptfigur denken lässt:

Wir brauchen keine anderen Welten. Wir brauchen Spiegel. Mit anderen Welten wissen wir nichts anzufangen.

Doch während in „Solaris“ die philosophische und metaphysische Ekliptik dieser geistigen, emotionalen und etischen Selbstumkreisung des Menschen erzählt wird, ist es bei Bradbury viel mehr die romantische, unmittelbare und selbsterfahrungsbezogene Ebene, quasi die Atmosphärenerkundung unserer Alltagserfahrung, unserer ganz persönlichen Phantasien, Träume und Ängste – des Wortlosen, das wir empfinden, wenn wir niederknien und mit der Hand durch sonnenwarmes Gras streichen. Bradbury erzählt uns von dieser Berührung mit so faszinierenden Worten, dass wir lesend völlig vergessen, dass wir bei der Raketenreise zum Mars den eigenen Hinterhof doch nie verlassen haben.

Es gibt keinen Ort wie den Mars von Ray Bradbury,

so schrieb lt. Buchcover sein Kollege James Blish, von dem gerade (Ihr erinnert) ein mittelmäßiger Roman draußen auf der Bank unter dem Nussbaum liegt. Aber das stimmt nicht ganz, denn mit Planeten ist es wie mit Büchern: ob wir uns dort aufhalten möchten, wird bestimmt von der Atmosphäre, die dort herrscht.

Bradbuys Mars ist kein Ort der Astronomie oder der Zukunft, es ist ein erzähltes Gefühl, nämlich des Staunens. Und so verströmen diese alterslos poetischen, witzigen, dramatischen, erschreckenden und wunderbaren Erzählungen vor allem eine gehörige Portion Respekt vor der schieren Unvorstellbarkeit der Zukunft des Menschen im All. Es ist eines der Bücher, die einen mit kindlicher Freude diese Zukunft für eine Zeit wieder zu einem unentdeckten Wunderland werden lassen, mit dem Menschen und all seinen guten und schlechten Seiten darin. Und nur, indem man das akzeptiert, kann der Mensch in seiner Zukunft jemals irgendwo ankommen. Wenn ihm das gelingt, ist es zuletzt völlig egal, auf welchem Planeten er sich gerade befindet:

„Ich wollte schon immer einen Marsianer sehen“, sagte Michael. „Wo sind sie, Paps? Du hast uns welche versprochen.“
„Da sind sie“, sagte Paps, und er hob Michael auf seine Schulter und zeigte nach unten.
Und da waren die Marsianer. Timothy begann zu zittern.
Da waren die Marsianer im Kanal – Spiegelbilder im Wasser. Timothy und Michael und Robert und Mama und Paps.
Von der gekräuselten Wasseroberfläche starrten die Marsianer lange, lange Zeit stumm zu ihnen herauf …

III.

So kann ich mich an dieser Stelle nur freuen, mit diesem willkürlich herausgezogenen EINEN Buch tatsächlich einen für mich persönlich sehr wichtigen Aspekt meines Leselebens repräsentieren zu können. Immerhin sind doch Bücher – womit ich mich hier in recht guter Gesellschaft weiß – Ingredienzen meiner täglichen geistigen Grundernährung, und weil der Vorgang des Lesens ein geistiger Zustand ist, der für mich nicht erst mit dem Aufschlagen eines Buches beginnt und nicht bereits mit dem Schließen des Buches endet. In jedem Buch, das ich lese, steckt die nachspürende Erinnerung an das Vorhergelesene – zuweilen die Genugtuung (oder auch die Enttäuschung) darüber, dass dies ja fast ganz genau das Gleiche ist, zuweilen auch die Enttäuschung (oder aber die Genugtuung) darüber, dass dies ja etwas völlig anderes als das Vorherige darstellt.

Ich kann mich jetzt weiterempfehlend nochmals darüber freuen, dass ich es habe. Und zuletzt verrate ich auch noch, was ich an dem Buch auch noch schön finde: dass es keine Lektüre ist, nach der man erschöpft erstmal lesesatt ist, sondern dass es einen mit seiner Kürze und stilistischen Leichtigkeit beim Lesen vom Lesen anderer Werke erfrischt, die mehr technologische, historische oder dramaturgische Ballaststoffe brauchen, um verdaulich zu sein. Das mag ich auch noch an diesem EINEN Buch: dass es nicht nur ein kluges Buch ist, sondern weil es zu anderen Büchern und neuem Lesen hinführt, mein Lesen bereichert und damit meine Seele. Denn die vornehmste Aufgabe eines Buches ist, für sich stehen zu können und doch zu anderen Büchern hinzuführen.

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