Über Romananfänge: „Denn euer Sinn muss unsre Könige schmücken …“

Während Pu noch Pause macht, erzählt uns Götz von berühmten ersten Worten.

Erster Teil

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Der englische Dichter Samuel Taylor Coleridge sah in der „willentlichen Aussetzung der Ungläubigkeit“ eine Voraussetzung dafür, dass Literatur, und insbesondere die romantische Dichtung, mit Sympathie aufgenommen werden kann. Seiner Auffassung nach lässt sich der Leser auf eine Illusion ein, weil er sich von ihr etwas verspricht. Er akzeptiert daher die Prämissen eines Werks, seien sie auch naiv, fantastisch, unwahrscheinlich. Wie aber gewinnt man die Aufmerksamkeit des Lesers?

Nach klassischer Lehre, indem man Naturtreue verknüpft mit den Farben der Imagination. Der Dichter zeigt etwas Bekanntes in neuem Licht. Er schenkt den Alltagsdingen den Zauber des Unbekannten. Doch was geschieht, wenn es nicht naturwahr und gemäß tagtäglicher Erfahrung, sondern „supernatural, or at least romantic“ zugeht, wie  Coleridge in seiner „Biographia Literaria“ schreibt und wie es den stärksten lyrischen Ausdruck in seinem Gedicht „Kubla Khan“ fand? Wie bildet sich dann das Vertrauen des Lesers? Nicht anders, als indem er seinen rationalen Widerstand aufgibt, um sich unterhalten und in ferne Welten entführen zu lassen:

„In Xanadu did Kubla Khan a stately pleasure-dome decree…“

Aber sind wir überhaupt a priori ungläubig, wenn es um das Geschichtenerzählen geht? Sind wir nicht vielmehr leichtgläubig, immer bereit uns einen Bären aufbinden zu lassen, allzeit begierig auf Märchen und Fabeln? Die Hürde, die ein Autor überwinden muss, um unsere Aufmerksamkeit zu erhalten, ist vielleicht gar nicht so hoch, wie es Coleridges These vermuten lässt, die vor allem dann gerne herangezogen wird, wenn es um die Akzeptanz phantastischer Literatur geht.

Es scheint so, als sei Coleridge, dem theoretisch und philosophisch gebildeten Kopf unter den englischen Romantikern, das Zusammenspiel von Dichter und Leser nicht ganz geheuer gewesen. Vielleicht war ihm der unmittelbare, selbstvergessene Zugang zur Poesie nicht so gegeben wie Keats oder Shelley, die ihre eigene Vorstellungskraft feierten. Für Coleridge folgte die Dichtung aus der Theorie, für die beiden anderen war die poetische Theorie bloß eine Begleiterscheinung ihres unwillkürlichen Schaffens.

„Schönheit ist Wahrheit, Wahrheit Schönheit, – das ist alles, was ihr auf Erden wisst, und alles, was ihr zu wissen braucht“,

heißt es in einer Ode von Keats und in diesen Zeilen steckt sein gesamtes poetisches Konzept. Coleridge war ein romantischer und rationaler Kopf zugleich, geprägt von den Philosophen des Empirismus, dem nüchternen britischen Geist der Praxis, dem alles Spekulative, Schwärmerische zuwider war. Und das breite literarische Publikum dachte eben genau so,  hielt die Werke der Romantiker für „childish“ und „silly“. Ihm wollte er sagen: lasst Euch doch auf die romantische Dichtung ein, so wenig sie auch mit der gegenwärtigen Realität zu tun hat, ihr werdet einen Profit davon haben. Es ist allein eure Entscheidung, den Widerstand aufzugeben. Ganz anders Shelley:

„Es ist unmöglich, die Werke der gefeiertsten Dichter unserer Zeit zu lesen, ohne dass die Elektrizität überspringt, die in ihren Worten knistert.“

Beim hochfahrenden Shelley packt es den Leser unwillkürlich, er lässt sich nicht überwältigen, er wird überwältigt. Für Coleridge war die Literatur das Gegenbild zur Wirklichkeit, er sah eine Trennlinie zwischen beiden, während für die rund zwanzig Jahre später geborenen Keats und Shelley Literatur und Wirklichkeit gar nicht zu trennen waren, was bei Shelley zu Aussagen führte wie: „Dichter sind die nicht anerkannten Gesetzgeber der Welt.“ Warum sollten wir auch kein Vertrauen in die Kunst haben, wenn sie uns doch, nach Keats´ Auffassung, nichts als die Wahrheit vermittelt?

Das entscheidende Kriterium ist gewiss die Qualität: Ist es gut geschrieben, akzeptieren wir alles; ist es schlecht geschrieben, akzeptieren wir gar nichts. Wichtig ist nicht, dass das Kunstwerk der Logik der Realität und der wissenschaftlichen Lehre entspricht, sondern dass seine werkimmanente Logik konsistent ist und nicht gebrochen wird. Die Kunst ist eine von vielen gleichberechtigten Weisen des Weltzugangs. Ein wahrhaft skeptischer, misstrauischer Geist müsste seine Ungläubigkeit auch aussetzen, um wissenschaftliche Erkenntnisse und seien sie noch so sattelfest bewiesen, aufzunehmen. Doch wir sind nicht so ungläubig, sondern es gehört wahrscheinlich seit vorgeschichtlichen Zeiten zu unserer Konstitution, Welterklärungen wenigstens vorübergehend zu akzeptieren, uns bereitwillig Illusionen hinzugeben und uns am Lagerfeuer um den Geschichtenerzähler, mag es auch die aberwitzigste Flunkerei sein, die er spinnt, zu versammeln. Grob gesagt, weil wir letztlich nichts wissen, glauben wir gerne alles. Hauptsache es wird spannend und geistreich erzählt. Keine Partei kann Bündnisse schmieden, wie es die Kunst vermag. Nichts verbindet die Menschen so sehr, wie die Imaginationskraft und die Bereitschaft, sich in eine Parallelwirklichkeit entführen zu lassen. Vor allem das Theater profitiert seit je von unserer Gabe, aus wenigen Elementen eine Welt entstehen zu lassen. Shakespeare lässt einen Chor zu Beginn von „Heinrich V.“ an diese Fähigkeit des Publikums appellieren:

„Ergänzt mit den Gedanken unsre Mängel, zerlegt in tausend Teile einen Mann und schaffet eingebildete Heereskraft. Denkt, wenn wir Pferde nennen, dass ihr sie den stolzen Huf seht in die Erde prägen. Denn euer Sinn muss unsre Könige schmücken…“

Der Sinn, der die Könige schmückt

Wenn es kraftvoll ist und ihm diese von Shakespeare beschworene Liaison mit dem Publikum gelingt, dann ist die Wirkung des Theaters nicht einmal vom Verständnis des Textes abhängig. Ich erinnere mich, dass ich als Student in einem Vorlesungssaal eine Inszenierung von Jean Anouilhs „Becket oder die Ehre Gottes“ gesehen habe, aufgeführt von einer französischen Laienspielgruppe. Mein Französisch war nicht gut genug, um auch nur annähernd der Handlung folgen zu können, doch als ich das Stück danach in einer deutschen Ausgabe las, stellte ich überrascht fest, dass ich den Gehalt des Stückes im Wesentlichen erfasst hatte. Bei Bühnenbild und Kostümen war die Gruppe mit bescheidensten Mitteln ausgekommen. In einer Szene begegnen sich Becket und der König auf einer kahlen Hochebene. Die beiden Schauspieler kamen mit großen, mit Stoff verkleideten Steckenpferden auf die Bühne und ihr Dialog wurde von per Lautsprecher eingespieltem Windrauschen begleitet. Die kindliche Naivität der Mittel war frappierend. Doch ich bin mir sicher, dass diese Szene nicht besser, intensiver als damals auf der Bühne dargeboten werden kann: niemals war mehr Heide, Einsamkeit, Schicksal, Kälte, Wind um diese beiden einst eng befreundeten Männer.

Und natürlich ist nicht nur der Theaterautor, sondern auch der Prosadichter immer von der Imaginationskraft des Lesers abhängig. Der Autor muss allerdings die richtigen Knöpfe drücken und darf seinen Partner nicht überfordern. Italo Calvino bemerkt in einem Essay über Tolstois Erzählung „Zwei Husaren“, dass die „häufig gerühmte Lebensfülle bei Tolstoi…die Konstatierung einer Abwesenheit“ ist. Bei Tolstoi zähle das, was man nicht sehe, das, was nicht gesagt werde, das, was dasein könnte, aber nicht da ist, so hält Calvino fest. Er selbst trieb ja bekanntlich in seinem Roman „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“ die postmoderne, ironische Selbstreflexion der Literatur auf die Spitze, indem er zehn verschiedene Romananfänge in eine Rahmenhandlung einbettete und den Leser zur Hauptfigur machte:

„Du schickst dich an, den neuen Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht von Italo Calvino zu lesen.“

Das ist der erste erste Satz und der zweite erste Satz lautet:

„Der Roman beginnt auf einem Bahnhof, eine Lokomotive faucht, Kolbendampf zischt über den Anfang des Kapitels, Rauch verhüllt einen Teil des ersten Absatzes.“

„Meta-Literatur“ wird so etwas gern genannt. Es ist ein Schreiben, das sein Entstehen begleitet und seine eigenen Mittel und Vorgehensweisen hinterfragt und mit ihnen spielt wie mit Bauklötzen. Seine Tradition reicht über das Werk von Borges und Schlegels „romantische Ironie“ zurück bis zu Laurence Sternes Roman „Tristram Shandy“, der so beginnt:

„Ich wollte, mein Vater oder meine Mutter, oder vielmehr beide (denn es war doch beider gemeinsame Pflicht) hätten ein wenig bedacht, was sie taten, als sie mich in die Welt setzten.“

Gleich, ob der Leser sich nun „willentlich“ oder „elektrisiert“ auf die Lektüre begibt, dem ersten Satz kommt eine besondere Bedeutung zu, auch wenn man ihn nicht überschätzen sollte, denn ein Buch wird selten nach dem ersten Satz, sondern eher nach der ersten Seite für immer aus der Hand gelegt. Das Gewicht des ersten Satzes wiegt umso schwerer je neuer das Werk, je unbekannter der Autor ist. Die so genannten Klassiker, alles, was kanonisiert ist, benötigt diesen Auftritt, dieses Lächeln, diesen Blick des ersten Satzes nicht mehr. Doch zweifellos ist er eine magische Schwelle, die von einer Wirklichkeit in eine andere führt. Und mag er auch nur in seltenen Fällen der erste Satz gewesen sein, den der Schriftsteller im Entwurf niederschrieb, so wird er doch bevor er an dieser prominenten Stelle endlich platziert wurde, um einige Male mehr im Kopf des Autors gewendet und geprüft worden sein, als die meisten anderen Sätze des Werks.

Um sich beim Anfang von Samuel Becketts Roman „Molloy“ zu gruseln und die Lage des Ich-Erzählers als problematisch zu empfinden, braucht es nicht viel Phantasie. Man muss nur im gleichen kulturellen Wasser wie Beckett schwimmen und dabei ein wenig mit den Ideen der Psychoanalyse in Berührung gekommen sein. Der an sich inhaltlich harmlose und, man könnte meinen, Geborgenheit assoziierende Satz:

„Ich bin im Zimmer meiner Mutter.“

ist spätestens seit Hitchcocks „Psycho“, der einige Jahre nach „Molloy“ entstand, mit Horrorvisionen aufgeladen. Und der folgende Satz macht das Grauen perfekt: „Ich wohne jetzt selbst darin.“ Mit dem dritten Satz des Romans tritt aber sacht der unverwechselbare Beckettsche Ton hinzu, ein Sound stoischen Gleichmuts und schwarzen Humors, voller Impassibilité: „Wie ich hierhergekommen bin, weiß ich nicht.“ Vielleicht war es so, dass Beckett schon im Akt des Schreibens zugleich der Leser Beckett war und den Assoziationsketten dieses Lesers folgte und sie niederschrieb.

Den Anfang wählt der Autor buchstäblich aus einer unendlichen Zahl von Möglichkeiten. Doch wählt er ihn überhaupt? Für den ersten Satz braucht es eine Unwillkürlichkeit, eine Eingebung, die dem Autor keine Wahl lässt. Diese Unwillkürlichkeit ist im Grunde zwingend für jeden einzelnen Satz eines Romans, sofern es ein großartiger werden soll, doch lässt sich dieser Anspruch kaum durchhalten. Kaum ein anderer Autor war hier so konsequent wie Kafka, der seine drei Romane aufgab, als er bemerkte, dass er Sätze suchte und nicht Sätze fand. Er äußerte sich abschätzig über ein Schreiben, dass nicht quasi unter Diktat erfolgte. Viele der großen Autoren der Weltliteratur behalfen sich, um ein Werk abschließen zu können, aber wohl damit, es so erscheinen zu lassen, als seien die Sätze nicht erbrütet, gedrechselt, gemacht worden, sondern unwillkürlich entstanden. Das heißt, sie feilten und glätteten an ihren Texten, bis möglichst alle Stellen, die nicht zwangsläufig klangen, beseitigt waren.

Der zweite Teil folgt am Sonntag, dem 28. April 2013.

Text und Podcast stehen unter einer Creative Commons-Lizenz.
Quelle: Götz Kohlmann/SchönerDenken

 

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