César Aira: 3. „Die Nächte von Flores“

Götz Kohlmann entführt uns in die Welt des Schriftstellers César Aira – in einem Interview und fünf Beiträgen. Immer sonntags – nur bei SchönerDenken.

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Nach „Humboldts Schatten“, diesem äußerst dichten Text, der Beschreibung und Schilderung auch immer wieder in originelle Reflexionen münden lässt, las ich als zweites Buch von Aira „Die Nächte von Flores“ und war überrascht – war das derselbe Autor? Hier konnte ich nun nachvollziehen, was Aira mit seiner Idee einer „literatura mala“ meinen könnte. Das Buch beginnt geradezu harmlos. Es wird in einem fast plaudernden Ton erzählt, so wie ein unbeteiligter Beobachter, der nachts durch die Straßen seiner Heimatstadt schlendert, es dem Publikum mitteilen könnte. Aira lässt seine Feder laufen, ist weit weniger streng mit ihr als in „Humboldts Schatten“. Und doch haben beide Werke das Augenzwinkernde gemein, einen Blick auf die Welt wie auf eine Theaterbühne, auf der man fröhlich Kulissen verschieben und Kostüme wechseln kann.

Ein älteres Ehepaar will in Zeiten der Wirtschaftskrise seine Rente aufbessern und arbeitet nachts gemeinsam als Zusteller in einem Pizzaservice ihres Stadtviertels. Neben ihrem Alter ist daran zunächst noch ungewöhnlich, dass sie im Gegensatz zu ihren mit Motorrollern ausgerüsteten jugendlichen Kollegen die Pizzen zu Fuß zu den Kunden bringen. Der Erzähler folgt den nächtlichen Wegen des liebenswert charakterisierten Paares und zeichnet so nebenbei ein Porträt des Stadtteils Flores in Buenos Aires, in dem Aira übrigens selbst wohnt. Er schildert die Rituale der jungen Pizzaboten, ihre rasanten Fahrten, ihre Missachtung aller Verkehrsregeln, huldigt ihnen, setzt ihnen und ihrer Freiheit ein Denkmal. Doch dann wird einer der jungen Pizzalieferanten entführt; später findet man seine Leiche – ohne Kopf.

Mit dem Paradiesvogel Nardo, einer wie aus einem Fellini-Film entsprungenen exzentrischen Figur, taucht ein weiteres Element der Verstörung in der Geschichte auf. Aus der Milieustudie wird eine Kriminalgeschichte, in der aber vieles auf dem Kopf steht, ein sozusagen umgestülpter Krimi, der fragmentarisch bleibt.

In Airas Texten kann man sich niemals sicher fühlen. Er ist in seinem Schreiben ein Anarchist, ein postmoderner Hasardeur. Die beiden lieb gewonnenen Helden Rosita und Aldo verschwinden schließlich für eine ganze Weile von der Bildfläche und die fast beschauliche Geschichte beschleunigt und wird im Handumdrehen zu einer anderen, die mit der ersten nur noch lose verbunden ist. Aira massakriert sie schließlich kurzerhand, bereitet ihr mit wenigen Hieben das Ende: in einem obszönen, verwirrenden Finale, einer dantesken Höllenfahrt, die in der Unterwelt eines Nonnenklosters angesiedelt ist.

Am kommenden Sonntag geht es im nächsten Beitrag um „Die nächtliche Erleuchtung des Staatsdieners Varamo“.

Der Podcast wurde gesprochen von der Schauspielerin Petra Steck.
Autor: Götz Kohlmann/SchönerDenken

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