Von meiner Wohnung aus gesehen, liegt Paris hinter Japan. Zeitlich zumindest. Nach Abschluss des Themenmonats Big in Japan folgt mit leichter Verspätung ein dreiteiliger Reisebericht: über Ostern eine Woche in Paris. Hier Teil Eins.
I.
Mittwoch: Eine beunruhigte Katze und eine flotte Anreise
Der erste schlaue Satz unserer einwöchigen Unterwegsigkeit fällt noch daheim und lautet in etwa: „Unser Kater mag keine Koffer, weil die ihm immer seine Menschen entführen.“
Es ist auch kaum zu leugnen, dass da aus feliner Perspektive ein Zusammenhang besteht, denn kaum kommen die Koffer vom Speicher runter, sind die zuständigen Menschen – in dem Fall: wir – auch schon außerhalb der Fütterreichweite, und das dauert dann auch manchmal eine Zeit.
Diesmal heißt es: eine Woche in Paris, und gebucht haben wir im Ibis Hotel La Villette, weil das erstens vergleichsweise günstig ist, zweitens die Matratzen erfahrungsgemäß bei diesen Hotels ganz gut sind und drittens die Freundin, mit der wir uns in Paris treffen wollen, in der Nähe wohnt.
Wir verlassen das rheinhessische Heim – für Catsitting ist natürlich gesorgt, das ahnt nur der Kater noch nicht – am Mittwoch vor Ostern gegen 17.30 und langen per IC über Mainz und Mannheim bereits um kurz vor 23 Uhr im Gare de l’Est an, und da kann man nicht meckern. Als ich im Großraumwaggon sitze, im Anschluss an die mehrsprachige Durchsage meine Anschnallgurte suche und schon halbbewusst auf die Sicherheitseinweisung warte, wird mir klar, dass ich in den letzten 20 Jahren auf Fernreisen fast immer nur geflogen und kaum je noch mit der Bahn gefahren bin. Allerdings bestehen auch mehr und mehr Ähnlichkeiten: die Nationalität des mehrsprachig seinen Begrüßungstext Durchsagenden kann man gut daran erkennen, dass er bei der weniger vertrauten Sprache Frequenzstörungen zu imitieren beginnt („Mesdammsemissjö, vous *genuschelsupp* dans le trains pour Paris et in les waggons *rausch/räusper* c’est le bistro de Deutsche Bahn…“ und so weiter bis Kaiserslautern).
Der Zug selbst bringt es lt. Waggonanzeige stellenweise auf 320km/h, was vom Abheben nicht mehr weit entfernt ist, mutmaßlich um das Saarland schneller hinter sich zu lassen. Jeder zweite Passagier hat mindestens einen Apple vor sich, und mein kleines Netbook auszupacken traue ich mich da schon gar nicht mehr, sondern lese in meinem mitgebrachten Taschenbuch, um das ich vorher einen Schutzumschlag gemacht habe, weil das die neugierigen Mitreisenden ärgert, insbesondere wenn dann meine Liebste und ich uns gegenseitig mit netten Stellen aus unseren jeweiligen Lektüren erheitern.
Abends um kurz vor elf kommen wir dann am Gare de l’Est an und werden von unserer Pariser Freundin Sylvie landestypisch – Luftküsschen rechts, Luftküsschen links – in Empfang genommen. Mit ihrer Hilfe meistern wir dann auch gleich die erste Hürde. Unser beider Schulfranzösisch ist dem schnellen Pariser Idiom nämlich nicht ansatzweise gewachsen; ich beginne gerade erst wieder Merci und Merde zu unterscheiden und soll dann mit dem Stressfaktor einer wachsenden Schlange heimwollender Einheimischer hinter mir Verhandlungen bzgl. der günstigsten Metroticketvariante für eine Woche führen; das erledigt Sylvie netterweise für uns, und wir entscheiden uns nicht für eine Wochenkarte (die gelten nur montags bis samstags, wir sind aber von Mittwoch auf Mittwoch da), sondern für ein Paris Visite-Ticket für 5 Tage und ein Carnet, d.h. ein Zehnerpäckchen Einzeltickets.
Nach einer unfreiwillig kurzweiligen pantomimischen Einweisung in das Entwertungssystem der Metro sind wir dann auch schon unterwegs zum Hotel. Wir stellen fest, dass wir mit der Wahl des Ibis La Villette insofern schonmal eine gute Wahl getroffen haben, weil es recht nahe bei einer Station der Linie 7 liegt, die einen ohne Umsteigen direkt zu wichtigen Ausgangspunkten für Laufrunden bringt, und das freut uns so, dass wir eine Station zu früh aussteigen. Macht aber nix, wir rollen mit unseren Köfferchen dann eben noch ein wenig am Bassin de la Villette entlang und schnuppern die erste Pariser Abendluft, die sich als reichlich vorhanden und gut gekühlt erweist. Laut Internet-Wettervorhersage stehen uns ziemlich verregnete Ostern bevor, und da haben wir Winterklamotten und zwei Schirme eingepackt, und wenn’s daraufhin nicht knalleheiß wird, stimmen die Paradoxieregeln des Lebens nicht.
Recht rasch ist eingecheckt. Weil wir erst so spät ankommen, bekommen wir kein Zimmer mit Blick auf den Kanal, sondern eines im obersten, 8. Stock mit Fernblick auf Sacre Coeur und den obersten drei Zentimetern des Eiffelturms, und Letzteren habe ich dann jetzt eigentlich gesehen und kann sagen, ich habe gelebt. Das Zimmer ist nicht groß, aber eigentlich recht gemütlich, ich habe schon doppelt so teure Zimmer erlebt, die in schlechterem Zustand waren: Ein Doppelbett mit guter (für uns heißt das: harter) Matratze, eine ausreichend dicke Decke, Leselämpchen an jeder Seite, ein kleiner Tisch mit Stuhl, ein Bänkchen, eine Garderobe mit Spiegel und einigen wenigen Zentimetern Aufhängemöglichkeit, eine funktionierende Heizung. Wesentlich umfangreicher als wir sollte man allerdings nicht sein, sonst könnte das etwa 2m² große Badezimmer doch ein wenig eng an den Hüften anliegen.
Nachdem wir unser Gepäck abgeworfen haben, begleiten wir unsere Freundin noch zu ihrer Wohnung, die sich ein Viertelstündchen weit entfernt befindet, lassen uns schonmal das ein und andere Lädchen zeigen und holen so auch noch ein wenig die Bewegung nach, die uns der ICE weggenommen hat. Unterwegs verabreden wir uns für den nächsten Abend zum Essen, lassen uns dann auf unsere Matratze fallen, und überlassen uns dem Schlaf des Angekommenseins. Ende des Anreisetages.
II.
Donnerstag: Kein Regen = Kein Museum. Erkundung des 19. Arrondissements
Es ist uns eine liebe Angewohnheit geworden, uns auf Reisen nicht der Vollpensionsfremdbestimmung zu unterwerfen, sondern unseren eigenen Tagesablauf festzulegen, daher haben wir keine Hotelverpflegung gebucht. Auch zählen wir beide zu jener morgenknurrigen Spezies, die vor der ersten Fremdmenschbegegnung schon mindestens einen Kaffee intus haben möchte, und das schließt Hotelaufzüge und wimmelige Frühstückssäle explizit mit ein. Also süffeln wir erstmal einen Kaffee, zubereitet im mitgebrachten Reiseespressokännchen, bevor wir unser Drumrum zur Kenntnis nehmen. Anschließend versorgen wir uns in einem der nahen Lädchen mit Picknick-Mampfutensilien, verpicknickmampfen diese und süffeln dazu einen weiteren Kaffee, und dann sind wir soweit, uns mit der Frage zu beschäftigen, was wir heute tun möchten.
Eine meiner persönlichen Definitionen des Begriffes ‚Feeerien‘ (genussvolle Worte schreiben sich mit ein paar ‚e‘ mehr, daher heißt es ‚leeesen‘ und ‚Keeekse‘) besteht im weitestgehenden Vergessen der Uhrzeit und der nur mit halbem Interesse gestellten Frage „Welchen Tag haben wir eigentlich heute?“. Da ist es schön, mit jemandem unterwegs zu sein, dem das genau so geht. Ein festes Programm haben wir uns entsprechend gar nicht erst vorgenommen und sind daher in der Lage, auf das unerwartet kühle, aber wenigstens vorläufig sonnige Wetter sofort zu reagieren und erstmal draußen was zu unternehmen, gemäß der fundamentalen Hochkulturregel: in Museen geht man erst in Zeiten größter meteorologischer Bedrängnis.
Da wir uns in unmittelbarer Nähe der Cité des Sciences befinden, beginnen wir unseren Wandertag dort. Die ‚Stadt der Wissenschaften‘ ist eine recht ausführliche Würdigung diverser wissenschaftlicher Richtungen und angesiedelt in einer weitläufigen und ausgesprochen unkoordiniert wirkenden Ansammlung zusammengewürfelter Architektur im Nordosten von Paris, aber gerade noch innerhalb des Verkehrsringes. Wir sind noch nicht ganz sicher, ob wir in die Ausstellungsbereiche hineinwollen und möchten erstmal nur das Terrain erkunden. Das findet sich ziemlich überfüllt von durcheinanderwimmelnden französischen Schulklassen und erinnert uns damit daran, dass Paris ja nicht nur für Nichtfranzosen, sondern eben auch für Nichtparisfranzosen ein begehrter Anlaufpunkt ist. Nachdem wir uns den Trubel in der flughafenähnlichen Haupthalle eine Weile angeschaut haben, beschließen wir, uns zumindest an diesem Tag lieber doch dem Draußen zu widmen, auch weil das Internet uns verraten hat, dass an diesem Wochenende jede wolkenfreie Stunde tatsächlich kostbar zu bleiben droht.
Wir ergehen uns also lieber entlang des Wasserkanals von La Villette und in dem an die Cité angeschlossenen Park, der mit noch etwas zaghaft und verdutzt wirkendem Grün, einigen verstreut stehenden roten Metallnichtkunstwerken der Sorte „Vous pouvez hochdapp le trepp pour le guck et sonst nix“ (meine Französischkenntnisse werden immer noch hochgefahren und defragmentiert) und überaus zahlreichen recht verschachtelten Wegen und Treppchen aufwartet, bei denen wir uns nicht immer sicher sind, ob sie nicht woanders weit dringender gebraucht würden.
Der augenfälligste Punkt der Cité des Sciences ist La Géode, eine mehrere Stockwerke hohe glänzende Kugel, in der sich ein Surroundkino befindet und die insgesamt erfolgreich den Eindruck verstärkt, dass man hier, auf Ameisengröße verkleinert, auf einem Flipper herumläuft.
Der zweite Ausflug des ersten Tages führt uns dann etwas weiter östlich, und ich bin gerne bereit, den Parc des Buttes-Chaumont schon jetzt zu meinem vorläufigen Pariser Lieblingsplätzchen zu ernennen. Mitten im 19. Arrondissement betritt man einen hügeligen und baumreichen, auf zahlreichen gewundenen Wegen zu erkundenden Park mit einer Wasserfläche in der Mitte und wiederum in dessen Mitte einem Felsen mit einem alten Aussichtspavillon. Drumherum sieht man dort eher das ältere bürgerlich-städtische Paris, sechs- bis achtstöckige Häuser mit Winzbalkonen, gusseisernen Geländern, verschachtelten Dächern, zahlreichen Kaminen und verspielt verornamentierten Fassaden, wo das Konzept der Mietskaserne dem Gedanken der Prachtvilla in einer Weise begegnet, die man nur in wenigen Städten noch so ungebrochen straßenlängenweise vorfindet. Darüber und in etwas größerer Ferne erblickt man die Hochhäuser und Hochbaukräne des neueren Paris. Das kann man ignorieren oder sich der Erkenntnis widmen, dass es aktuell vor allem dieser Kontrast ist, der das Stadtbild prägt: Jugendstil und Neon, Glasfassade und Stuck.
Stilbruch? Ganz sicher, einer neben dem anderen, aber das liegt daran, dass in dieser Stadt eben gelebt wird: Paris ist kein Museum, und wer das nicht ab kann, der muss sich irgendwo im Marais einen Hinterhof suchen und sich verschanzen. Auf den belebten Straßen höre ich mehr verschiedene Sprachen, als ich identifizieren kann, in der Metro wird mehr gesungen (leider auch gebettelt) als in Deutschland. Insgesamt findet das Leben, dem ersten Eindruck nach, mehr im öffentlichen Raum statt: man trifft sich eher im Café und im Park als im heimischen Wohnzimmer, als sei die ganze Stadt ein einziger Campus. Die ersten sonnigen Stunden seit Wochen haben denn auch viele Leute hinausgetrieben, und im Park ist eine Menge los. Übrigens ist der Parc des Buttes-Chaumont offenbar die einzige größere Pariser Grünanlage, in der man sich überhaupt auf dem Rasen niederlassen darf.
Den Tag beenden wir verabredungsgemäß sehr entspannt mit einem Abendessen im Heim unserer Freundin, die unweit unseres Hotels eine kleine, aber stilvolle und schon fast unglaubwürdig typisch französische Zweizimmer-Altbauwohnung mit Blick auf den Kanal von La Villette hat.
Du weißt in Paris, dass Du willkommen bist, wenn man Dir den fünfstelligen Code gibt, den Du an der ersten Haustür eingibst, um zu den Klingeln und Postkästen und der zweiten Haustür vorgelassen zu werden. Wir geben also den Code ein, treten ein, klingeln, werden reingelassen, steigen zwei knarrende hölzerne Altbautreppen empor und werden an der eigentlichen Wohnungstür freundlichst begrüßt, Luftküsschen links, Luftküsschen rechts, und der Abend verplaudert, versüffelt und vermampft sich dann sehr nett.
III.
Freitag: Abhaken des Touristenpflichtprogramms
Da der Karfreitag in Frankreich kein Feiertag ist und unsere Freundin Sylvie daher arbeiten muss, lädt mich meine Liebste (die im Unterschied zu mir schon das ein und andere Mal hier war) ein, mit ihr das Pariser Touristenpflichtprogramm zu absolvieren.
Den Tag verbringen wir also damit, uns einige der bekanntesten Anlaufstellen der Metropole anzusehen: wir beginnen am Louvre, wo schon um 11 Uhr morgens die Warteschlange nicht mal mehr in die Eingangspyramide hineinpasst, spazieren die Seine entlang, wo gerade der Dauerflohmarkt eröffnet, machen von der Pont des Arts aus das obligatorische Foto von der Ile de la Cité inklusive Pont Neuf und Notre Dame, spazieren dann über die Ile Saint Louis und am Ufer weiter bis zum Jardin des Plantes, den wir kurzzeitig für den Jardin des Tuileries halten, weil man so eine große Stadt ja auch schonmal falschrum hält.
Wir fahren ein Stück mit der Metro in die Gegenrichtung, kommen bei der Oper wieder heraus, bewegen uns am Place de la Madeleine vorbei und schwenken am Place de la Concorde rechts zuletzt in die Avenue des Champs-Elysées ein, wo trotz des jetzt entschlossen auf einen Wolkenbruch zusteuernden Wetters die erwartete Hölle los ist: wer hier nicht shoppt, hat entweder kein Geld, arbeitet selbst als Verkäufer oder Türsteher (jeder Laden hier hat mindestens einen) oder er/sie besitzt eine verdammt gute Konsumterror-Firewall. Die A-Lage leisten sich natürlich vor allem die Ketten und die großen Marken, und die Produkte sind Schmuck, Klamotten, Schuhe, Autos, unterbrochen lediglich von den Touristenfressnäpfen und der ein und anderen Bank, damit man auch an sein Geld herankommt, um es dann möglichst zwei Häuser weiter gleich wieder loszuwerden.
Diese Art von Straße gibt es leider mindestens einmal in jeder großen Stadt, und sie gehört ortsunabhängig zum Imperium von Großkonsumatien. Als einzige zugelassene Hommage an Paris müssen wir ständig den Plastikeiffelturm- und Fotospielkartenverkäufern ausweichen; diese Straßenhändler und ihr Sortiment sind auf allen stark frequentierten Plätzen vertreten und sehen sich derart ähnlich, dass ich kurzzeitig vermute, es gebe nur einen einzigen und der sei SEHR schnell. Mittlerweile habe ich die Theorie überarbeitet und gehe von einem Beweis für gelungenes Cloning aus. Der Frühling in Paris beginnt übrigens ganz offiziell dann, wenn auch die Wasserverkäufer der gleichen Produktionsreihe aus ihren Alkoven schlüpfen.
Fortsetzung folgt.