April in Paris (2)

Von meiner Wohnung aus gesehen, liegt Paris hinter Japan. Zeitlich zumindest. Nach Abschluss des Themenmonats Big in Japan folgt mit leichter Verspätung ein dreiteiliger Reisebericht: über Ostern eine Woche in Paris. Hier Teil Zwei.

IV.
Samstag: Frieren in Montmartre; Wiederaufwärmen in Klein-Marokko (trotz Sprachbarriere)

Österliche Auslage einer Pariser Cholésterie (Bild: Liesel Hahn)Den Samstag beginnen wir sehr entspannt mit einem kleinen Frühstück im Heim unserer Freundin. Anschließend nimmt Sylvie uns mit auf einen kleinen Rundgang durch ihr persönliches Paris, dass sich leider auch an diesem Tag als stürmisch-regnerisch erweist; der Winter nimmt offenbar nicht gerne Abschied von der Stadt und ist in jeder plötzlichen Böe noch zu spüren. Wir besuchen erst einen kleinen Antiquitäten-Straßenmarkt, spazieren im Anschluss daran durch das einst für sein hohes Künstleraufkommen berühmte Montmartre, das sich rundum des auf einem kleinen, aber steilen Berg gelegenen Prachtbaus von Sacre Coeur entfaltet. Mir wird es für diesmal jedoch eher aufgrund seines nichtendenwollenden Touristengewimmels in Erinnerung bleiben inkl. der offenbar ebenfalls obligatorischen asiatischen Hochzeitsreisegruppe, die sich an verschiedenen Stellen der Stadt fotografierend um das in vollem Ornat befindliche Paar gruppiert. Wiederum bin ich nicht sicher, ob ich nicht genau dasselbe Paar oder nur eines aus dem gleichen Förmchen tags zuvor am Louvre und am Place de la Concorde gesehen habe.

Sacre Coeur am Ostersamstag (Bild: Liesel Hahn) Montmartre gefällt mir nicht: zu kalt (na gut, dafür kann es nix), zu laut, zu vermenscht, insgesamt kommt es mir ein wenig vor wie sein eigener Disney-Nachbau. Mir scheint es ein einst durchaus charismatisch gewesener Ort zu sein, dessen Atmosphäre man jedoch aktuell nur noch mit viel Glück zusammengekauert in einem übersehenen Eckchen finden kann (und die ich durch meine eigene touristische Anwesenheit dann dort auch noch vertreibe) oder zu völlig anderen Uhr- und Jahreszeiten. Heute sehe ich da keine rechte Chance, aber womöglich bin ich auch einfach zu sehr mit frieren beschäftigt. Der Wind pustet eine Kühle in mich hinein, die auch durch einen großen Pott (sorry: eine ‚bol‘) Kaffee nicht vertrieben wird.

Für den Abend haben wir einen Tisch in einem derzeit offenbar recht   ‚angesagten‘ Restaurant in der Avenue Laumiere ergattern können, das sich auf Berber-Küche spezialisiert hat, aber trotzdem und aus Gründen, die mir völlig schleierhaft sind, „L’Atlantide“ heißt (die Homepage des Restaurants verrät unter ‚Histoire & Culture‘ auch nur „page en construction“, der Name ist also womöglich nicht nur mir schleierhaft). Nach einigem Warten führt man uns zu unserem Tisch und wir bestellen schweren marokkanischen Rotwein, Wasser, Kouskous mit scharfer Gemüsesauce und einer Variation Fleischspießchen.

Während wir das alles allmählich verspachteln, versuche ich mich mit meinem sehr netten Gegenüber Bernardo – einem ursprünglich aus Chile stammenden, nun in Paris lebenden Schriftsteller – über Literatur zu unterhalten. Obwohl mein Französisch jetzt schon nicht mehr ganz so miserabel ist wie vor zwei Tagen noch, ist es für mich eher anglophilen Wortmenschen doch eine ganz besondere Herausforderung, einem frankophilen Wortmenschen in einer Sprache, wegen der ich völlig zu Recht mal hängengeblieben bin, zu erläutern, was genau ich an James Joyce und Katherine Mansfield mag und welche Art von Lyrik ich vorziehe. Der verräterisch süffige, recht gehaltvolle Rotwein hilft natürlich bei der Völkerverständigung etwas, aber ich fürchte, mein ständiges Nichtverstehen dessen, was Bernardo mir seinerseits zu erzählen versucht, bremst den historisch wertvollen, mitschreibenswerten und intellektuell befruchtenden, synergetisch-hochgeistigen Dialog zweier großer Gelehrter übelst aus. Sylvie springt teilweise als Übersetzerin ein, und das gibt mir die Zeit, abwechselnd im Geiste nach Umschreibungsmöglichkeiten für langvergessene Vokabeln zu suchen sowie einem gewissen ehemaligen Achtklässler und seinem pädagogisch herausgeforderten Lehrer nachträglich in den Hintern zu treten.

Aber trotzdem ist es insgesamt ein sehr netter und auch sättigender Abend, zwar auf einem sehr kleinen gemeinsamen Verständnisnenner („Tu aime aussi <La pension allemande>?“ – „Oui, oui.“), aber doch kurzweilig und anregend.

V.
Kalte Pariser West-Nordwest-Achse: Vom Arc de Triomphe ... (Bild: Liesel Hahn)Sonntag: Ein besonders kaltes und ein angenehm warmes Stückchen Paris

Den Sonntagvormittag verbringen wir wieder im Touristenmodus und schauen uns La Défense an, die westliche Endhaltestelle der Metro-Hauptlinie 1 und direkte Verlängerung der berühmten Achse Concorde – Av. des Champs-Elysees – Arc de Triomphe.

... bis zur Grande Arche. Roland Emmerich würde hier evtl. gerne La Géode durchkegeln (Bild: Liesel Hahn)Wenn ich geglaubt habe, die Cité des Sciences sei bereits eine grausige  Architektenspielwiese, dann sehe ich mich jetzt eines Schlimmeren belehrt, denn La Défense ist eine einzige große Ansammlung von ambitionierten, hypermodern gestalteten Vorzeigebauprojekten der gestalterischen Oberliga, beginnend mit dem postmodernen Echo auf den Arc de Triomphe, der „Grande Arche“, die wiederum im Zentrum einer langen Betongalerie von Glasschachteln und -säulen steht, die sich jeder für sich und daher in der Summe erfolglos um Unverwechselbarkeit bemühen. Das Bild wird ergänzt um eingeschüchtert und teils auch einfach deplaziert wirkende organische Kunstwerke in bunten Farben, und insgesamt ist, glaube ich, die futuristisch gemeinte Arbeitsstadt von La Défense bei jeder beliebigen Außentemperatur einer der kältesten Orte von Paris.

Sylvie, die hier vor Jahren eine Zeitlang gearbeitet hat, hat uns davon berichtet, wie morgens ameisenarmeengleich Beschlipste und Businesskostümierte aus der Metrostation hervorquellen und sich auf die winzigen Büroschachteln verteilen, mittags die gutgemeinten, aber völlig unterdimensionierten Aufenthaltsgrünflachen frequentieren, ihren Nachmittagsdienst absolvieren, um dann des Abends wieder in die bewohnbaren Bereiche zurückzufluten. Ich komme mir hier ein wenig vor wie in einem Alptraum, den man vielleicht haben mag, wenn man sechzehn Stunden lang am Stück Tetris gespielt und dazu Pink Floyd gehört hat. Es ist mal ganz interessant, hier durchzuwandern, aber ich bin unglaublich froh, nicht zum täglichen Verweilen in einer solchen Arbeitswelt gezwungen zu sein.Blechtierkarawane vor einem der Gebäude in La Défense (Bild: Liesel Hahn) Im Geiste schließe ich mich der Fluchtkarawane der wagenanhängergroßen Blechtiere an, die an einer Stelle nach einer Veranstaltung zur Abholung umherstehen.

Bereitwillig nehmen wir nach einer Stunde oder so die Metro zurück in die Stadt der Lebenden, um uns von Sylvie durch das Marais, ein schönes altes Viertel, geleiten zu lassen. Vom Place des Vosges aus ergehen/verlaufen wir uns inmitten der alten Gassen, durch schmiedeeiserne Gitter sichtbare kleine Hinterhofparadiese, kleinen Lädchen (wo anders als in Paris mag z.B. ein Laden existieren, der nichts führt als sanitäre Antiquitäten?), Cafés (Sylvie empfahl insbesondere das Café der Schwedischen Akademie, in dem es aber leider brechend voll war). Laufmüde und etwas kopfunterfordert machen wir danach im Hotel ein Päuschen, und im Halbschlaf sinniere ich darüber, dass Roland Emmerich, hätte er in „2012“ auch den Untergang von Paris gezeigt, vermutlich La Géode durch das Tor von Grande Arche hätte rollen lassen.

Für den Sonntagabend klappt es dann kurzfristig mit einer interessanten Veranstaltung. Sylvie kennt um mehrere Ecken herum Jim Haynes, einen Ende der 60er Jahre in Paris hängengebliebenen U.S.-Amerikaner, der seit einigen Jahrzehnten in seinem Hinterhofatelier einen regelmäßigen offenen Abend für geistig interessierte Leute aller Altersgruppen und aus aller Damen und Herren Länder veranstaltet. Jim Haynes hat als Englischdozent, Sexualtherapeut, Herausgeber, Festivalveranstalter und Autor gearbeitet, sammelt Begegnungen mit Menschen und ist 2005 (so steht’s auf der Preisskulptur auf dem Fenstersims) in Edinburgh zum „Living Archive“ ernannt worden. Mittlerweile ist er über 70, lässt es sich jedoch nicht nehmen, einmal wöchentlich bis zu 80 Gäste in seinem Haus zu begrüßen, und trotzdem gibt es noch eine Warteliste. Auf der sind wir mit etwas Glück so weit nach oben gerutscht, dass wir zu ihm in die Rue de Tombe Issoire in Paris Süd eingeladen werden und daher kurz nach 20 Uhr ein Hoftor durchschreiten und in einem langgestreckten Hinterhofgarten landen, in dem sich ein altes zweistöckiges Ateliergebäude ausstreckt, das in kleine kastenförmige Einzelwohnungen unterteilt ist. In No. 2, wo, wie ich im Laufe des Abends erfahre, angeblich auch Matisse gearbeitet hat, wohnt Jim Haynes.

Am liebsten, so schreibt Jim auf seiner Homepage, würde er jeden Menschen auf der Welt jedem anderen Menschen vorstellen. Jeder Besucher ist gehalten, nicht nur mit denen zu sprechen, die er eh schon kennt, sondern vor allem mit Unbekannten, und andere Regeln gibt es in dem mit Büchern und Leuten vollgestopften hohen und schmalen Raum nicht. „Give yourself any interesting background you like“, so scherzt einer der Stammgäste und schlägt mir aufgrund seiner Assoziationen zu meinem Akzent vor, ich solle doch für diesen Abend einfach mal Däne sein; aber warum sich verstellen in einer Umgebung, in der man als Mensch interessant ist und gar keine biographischen Statussymbole mitbringen muss.

Hauptsprache – zu meiner großen Erleichterung – ist Englisch, und in den folgenden drei Stunden plaudere ich u.a. mit einer Grundschullehrerin aus Kent, einer Philosophiedoktorantin aus Wien, einem Architekten aus Sidney, einer Französischdozentin aus Michigan und einer Pariser Rechtsanwältin. Man kommt auf das Freundlichste von Hölzken auf Stöcksken, vom Restaurieren eines alten Hauses über das weite Feld der Literatur zur jüdischen Familiengeschichte einiger Gäste, die Stammgäste erzählen Anekdoten von Jims Treffen, die Pariskenner geben Parisnochnichtkennern Tips.

Mit dem Hausherrn selbst länger zu plauschen ergibt sich für mich an diesem Abend nicht, aber zum Trost verteilt er Gratisexemplare der schottischen Literaturzeitschrift, in der sein letzter Artikel erschienen ist. Dazu wird in hölzernen Schälchen Leckeres herumgereicht, und im Eckchen kann man sich mit Bier, Wasser oder Rotwein versorgen. Jim Haynes ist einer jener enzymatischen Menschen, die eine offene Grundatmosphäre für die Erstbegegnung Fremder zu schaffen vermögen, und als er mit Rücksicht auf seine Nachbarn pünktlich um 23.00 Uhr den Abend beendet („We always have this little contest“, erklärt er, „and the winners are those who can leave without a sound“), bedauert man nur, dass man nicht mit allen im Raum hat reden können.

Auch Metropolen haben Idyllen, meistens jedoch private. Hier ein Balkonidyll irgendwo im Marais (Bild: Liesel Hahn)Auf dem Heimweg fragt mich Sylvie, die von meiner Abneigung gegen Großstädte weiß, in der Metro, ob ich nun etwas besser verstünde, was sie an dieser Stadt liebt, und ich kann ihr das nur bestätigen: neben dem kaltanonymen Gewimmelparis der Touristenstraßen und Büroviertel wohnt hier auch weiterhin das berühmte gastfreundliche und warmherzige Paris, das sich als Nachbarin der ganzen Welt versteht, nicht einmal die Augenbrauen hebt, wenn jemand seinen Beruf mit ‚Künstler‘ angibt und auch sonst ein wesentlich breiteres Spektrum an Rollen und Identitäten akzeptiert.

Das schließt die aufgedonnerte Matrone, die auch bei Sonnenschein mit Pelzmantel im Park flaniert und mittels ihres Windhundes betont, dass sie sich im Zentrum des extrem wohnteuren Paris sagenhaft viel Platz leisten kann, ebenso ein wie den Clochard, der in einem zerfledderten Zelt unter einer der Brücken auf der Ile des Cygnes dauerkampiert. Der mit seinem Karaoke-Rollwägelchen zwischen den Stationen Poissonnière und Opéra pendelnde Metrosänger steht direkt neben dem durchgestylten dunkelhäutigen Schönling mit Halstuch, hochkragigem Designerhemd, Samthose und Lederschnabelschuhen, und beide teilen sich die völlige Gewissheit, vielleicht überall sonst aufzufallen wie bunte Hunde, aber nicht in dieser Stadt, die nur die Achseln zuckt, vielleicht höchstens noch „Pourquoi pas?“ murmelt und sich wieder der mitgebrachten Lektüre widmet.

Zugleich weiß auch ich Kurzzeitbesucher natürlich durchaus, dass Paris kein Utopia der kulturellen Akzeptanz darstellt; aber vielleicht trifft zumindest mein Ersteindruck zu, dass Kontraste womöglich eher zugelassen werden als zumeist in Deutschland, wo – wer will, mag das aus unserer jüngeren Geschichte ableiten – doch durchaus der bürgerlichen Scheinwahrung und einer gewissen gleichschaltenden Verkniffenheit größeres Gewicht zukommt. Ich merke es ja an mir selbst: ich würde auch eher in Paris im Varietékostüm mittags U-Bahn fahren als, sagen wir, in Frankfurt (und, nein, in Frankfurt kennt mich ebenfalls niemand).

Fortsetzung folgt.

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