April in Paris (3)

Von meiner Wohnung aus gesehen, liegt Paris hinter Japan. Zeitlich zumindest. Nach Abschluss des Themenmonats Big in Japan folgt mit leichter Verspätung ein dreiteiliger Reisebericht: über Ostern eine Woche in Paris. Hier Teil Drei.

VI.
Montag: Na gut, doch ins Museum – bevorzugte ethnologische Pflichtübung (mit leichten erotischen Irritationen)

Eine Bol: französischer Kaffeenapf, ideal auch zum Händewärmen (Bild: Liesel Hahn)Den größten Teil des Ostermontags verbringen mein Schatz und ich im Musée du Quai Branly, einem namhaften Völkerkundemuseum, das in seiner jetzigen Form erst vor wenigen Jahren seine Pforten geöffnet hat. Für mich als Ethnologe ist das quasi eine gern wahrgenommene Pflichtübung.

Normalerweise hat das Museum montags gar nicht geöffnet. Wegen des Feiertages hat man eine Ausnahme gemacht, von dieser Ausnahme jedoch offenbar nicht sehr vielen berichtet, so dass statt der hier sonst üblichen Schlangen und Gruppenführungen sehr wenig los ist. Vom Eintrittspreis sind wir sehr angenehm überrascht, denn inklusive des Zuschlages für drei Sonderausstellungen und abzüglich des kleinen Rabatts, den uns der Besitz des Paris Visite-Tickets einbringt, bezahlen wir pro Person 12 €, und für das, was geboten ist, kann man sich da wirklich nicht beschweren.

Über eine weitgeschwungene Rampe gelangt man aus der Eingangshalle hinauf in die Museumsebene, wo verschiedenen Kulturräumen eigene Abschnitte zugeordnet sind. Den größten Raum nehmen die Ausstellungen zu ozeanischen und afrikanischen Kulturen ein, gefolgt von Exponaten aus den Kulturen beider amerikanischer Kontinente und Asiens. Zunächst wirkt das sehr organisch angelegte Museum auf uns sehr dunkel und etwas unübersichtlich. Letzteres mag aber auch ein wenig daran liegen, dass wir nicht der empfohlenen Route folgen, die mit Afrika beginnt, sondern uns einen eigenen Weg bahnen und zunächst den Ozeanien gewidmeten Teil erkunden, der uns erstens beide mehr interessiert und zweitens jetzt, direkt nach Öffnung des Museums, noch völlig leer ist. Nach einigen Minuten haben wir uns an die sparsame Beleuchtung gewöhnt und empfinden sie als sehr angenehm für die Augen. Die Exponate sind in ihren großen Vitrinen gut ausgeleuchtet und kommen auch farblich zur Geltung, was in allzu greller und klinischer Lichtumgebung nicht der Fall wäre. In den zahlreichen Nischen und Boxen am Rande des langgestreckten Gebäudes finden sich dazu Fotografien, Infostationen und Film- und Soundinstallationen.

Zwei Betrachtungsschwerpunkte treten hier hervor: zum einen das Bemühen, die gezeigten Gegenstände in ihrem Gebrauchskontext zu verorten, zum zweiten auch die Übergänge zwischen Kulturräumen zu betonen – sowohl Kontraste als auch gegenseitige Beeinflussungen zu zeigen. Ebenfalls beeindruckt hat uns der langgestreckte Zentralgang, denn dieser ist zusätzlich für blinde Museumsbesucher ausgelegt und bietet neben Brailletexten und Hörstationen auch Reliefbilder und sogar Tastmodelle von Gebäuden und Skulpturen. Auch dass man hier und da einen Blick auf das Exponatearchiv werfen kann, gefällt uns.

Im zweiten Stockwerk befinden sich zwei der drei aktuellen Sonderausstellungen und ein kleines Medienzentrum, in welchletzterem man in aller Ruhe entweder die Kurzfilme und Bildgalerien der diversen Infostationen noch einmal abrufen oder sich interaktive Aufbereitungen anderer Themen anschauen und -hören kann, z.B. eine vergleichende Darstellung verschiedenster Sprachen und Sprachräume mit Hörbeispielen. Letzteres wird am Ende heruntergebrochen auf Alltagsbeispiele aus dem direkten Umfeld, z.B. auf verschiedenste Begrüßungskonventionen von Bevölkerungsgruppen, die man in Paris häufig trifft, und das bringt sicher nicht nur den hier durchgewunken werdenden Schulklassen etwas bei.

Die erste der drei Sonderausstellungen heißt „Sexe, mort et sacrifice dans la religion Mochica“ und versammelt Bild- und Keramikfunde aus dem heutigen Peru etwa aus dem 1. bis 8. Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Schwerpunkt ist die Veranschaulichung des Zusammenhangs von Sex, Tod und [Menschen]Opfer in der Kosmologie dieser Andenkultur. In punkto Veranschaulichung lassen die Exponate – Musikinstrumente, Waffen, Öl- und Getränkegefäße – denn auch nichts offen: Explizite Darstellungen diverser Sexualakte, nur beginnend bei der Mann-Frau- oder Eine/r-Allein-Variante, gemäß der Kosmologie der Mochica erweitert auf Sex mit bereits als künftige Menschenopfer Gekennzeichneten, in der Zwischenwelt Befindlichen, mit Mumifizierten und Ahnen. Letzten Endes geht es um die engstmögliche Darstellungsverknüpfung von Leben und Tod (und Sex mit einem Skelett zu zeigen kann da als recht geeignete Lösungsvariante angesehen werden).

Von den durchaus manchmal ebenfalls expliziten, aber doch eher verspielten erotischen Darstellungen vieler anderer Kulturen ist das sehr weit weg. Auch uns ist das Ganze sehr fremd, aber später kommt mir der Gedanke, dass ja auch die mittelalterlichen Totentänze ähnlich extreme Nachvollzüge – oder bewusste Verkehrungen – der jeweiligen göttlichen Ordnung enthalten. Oder ist das nicht vergleichbar? Letzten Endes kann uns die kleine Sonderausstellung diese von ihr aufgeworfene Frage nicht beantworten, und wir wissen nur zwei Dinge ganz sicher: das Universum des menschlichen Denkens ist groß, und in dieser Keramik würden wir Oma keinen Tee servieren („Gnädigste, würden Sie mir freundlicherweise die Fellatiokanne mit dem Darjeeling reichen?“).

Die zweite Sonderausstellung trägt den Titel „La fabrique des images“ und versucht kulturübergreifend, verschiedene Konzepte von Weltverbildlichung   zu veranschaulichen. Anhand von verschiedensten Beispielen werden kosmologische und künstlerische Konzepte wie Animismus, Naturalismus und Totemismus nebeneinandergestellt – von Tiermasken, die zu tragen einem die Eigenschaften des imitierten Tieres verleihen soll, bis hin zu Beispielen europäischer Bildkunst verschiedener Epochen, die u.a. daran erinnern, dass die naturgetreue Abbildung eines Motivs nur eines von vielen möglichen Zielen einer Reproduktion darstellt.

Und was ist überhaupt ’naturgetreu‘? Aus Sicht eines Aboriginekünstlers geben dessen Bilder den Traum eines Ortes getreuer wieder, als es eine lediglich fotorealistische Darstellung vermöchte, auch wenn unser ungeschultes Auge lediglich ein psychedelisch wirkendes, abstraktes Muster erkennen will. Das Bild wurde womöglich mit dem Ocker genau des Ortes gemalt, den es repräsentiert, und ist damit selbst Bestandteil des Motivs. Eine kurze Filmdokumentation über diese vielleicht älteste noch lebende menschliche Kunst, die mit Überblendungen zwischen Landschaften, Gemälden und den Künstlern ‚dazwischen‘ arbeitet, rundet für uns diese Themenausstellung sinnig ab.

„Autres Maitres de l’Inde“ ist der Titel der dritten und letzten Themenausstellung, welche die Interaktion traditioneller ländlicher indischer Kunst mit modernen Elementen zum Thema hat. Ein kleines Eingangszimmer lockt mit einem Filmausschnitt aus einem alten Bollywood-Streifen in Dauerschleife und ergänzt dies optisch durch einen Kontrast aus historischen Schwarzweißaufnahmen und Schnappschüssen von Dreharbeiten  neuer Produktionen. Auch im weiteren Verlauf werden die Kunstwerke verschiedenster indischer Regionen in ihrem Wandel dargestellt: traditionell gemusterte Gobelins stehen großflächigen Straßenszenen gegenüber, eine jahrhundertealte lebensgroße Büffelstatue starrt auf die ’nur‘ jahrzehntealte künstlerische Verarbeitung der vielleicht ersten Begegnung eines Künstlers mit einem Flugzeug, großflächige Insektenbilder vereinen traditionelle Stilarten mit modernsten Farben und Materialien.

Es mag ein wenig daran liegen, dass nach rund fünf Stunden Exponatwanderung unsere Aufmerksamkeitsspanne definitiv erschöpft ist, aber diese Ausstellung teilt uns nicht viel mit. Womöglich bedürfte sie auch am ehesten der ausführlicheren begleitenden Kommentierung, denn hier finden sich auch die wenigsten Erläuterungstafeln. Einige Exponate sind durchaus künstlerisch beeindruckend, aber oftmals ist für uns das konzeptuell Besondere eines Stückes weder aus dem Werk selbst noch aus dem knappen erläuternden Drumrum ersichtlich. Letzten Endes folgen wir der schön gestalteten Einladung, uns vis-à-vis der letzten Gemälde auf einer kleinen gepolsterten Ausruhempore niederzulassen, nicht, sondern begeben uns hinaus in die Frischluft, zumal ein Blick durch die Fenster uns mitgeteilt hat, dass es tatsächlich Blau am Nachmittagshimmel zu sehen gibt.

Wenn man nachträglich überhaupt an der Gesamtkonzeption des Museums etwas kritisieren kann, dann vor allem, dass Fremdsprachler hier spürbar benachteiligt sind. Deutsch erwarte ich ja gar nicht ernsthaft, aber es ist schon schade, dass die englischen Erläuterungen, sofern überhaupt vorhanden, meist nur ein Drittel vom Haupttext wiedergeben. Zwar gibt es einige der Faltblätter auch in Übersetzung, und natürlich kann man die ausleihbaren ‚Knopf-im-Ohr‘-Führer in englischer Sprache kriegen. Uns hätte es jedoch völlig genügt, wenn einfach die Exponatinfos auch vollständig in Englisch vorhanden gewesen wären – der Platz ist da, und von einem Museum mit internationalem Anspruch würde ich das eigentlich auch erwarten. Trotzdem war das Museum auch so hochinteressant, und ich kann es jedem Interessierten nur empfehlen (zur Not nimmt man sich ein Wörterbuch mit und hofft, dass Dinge wie „communautés guerrières“ darin übersetzt sind).

Mit einem langen Spaziergang die Seine entlang Richtung Südwesten (bis zur Spitze der Ile des Cygnes, wo ein verkleinertes Modell der Freiheitsstatue thront, damit bootsfahrende U.S.-Touristen etwas zu fotografieren haben, bevor sie am Eiffelturm vorbeikommen), einer leckeren Tarte und Rotwein beschließen wir den Tag in der ruhigen Gewissheit, für heute in ausreichendem Maße Hochkulturangehörige gewesen zu sein (man ist sich als Tourist da ja oft nicht so sicher).

VII.
Dienstag: Paris taut auf

Durch Mitnahme zweier Schirme, warmer Jacken und soliden Schuhwerks wollten wir ja, es wurde eingangs berichtet, die Paradoxieregeln des Reisens ausnutzen und für schönes Osterwetter sorgen. Das hat bislang nur sehr bedingt geklappt, aber nachdem wir am Montag dem Wetter mit einem ausgedehnten Museumsbesuch gezeigt haben, dass wir es jetzt wirklich ernst meinen, lässt es sich zumindest am letzten Tag unseres Aufenthaltes nicht lumpen. Die Sonne kommt raus, es wird warm, und aus den Gebäuden und Metroschächten quellen die Pariser (sofern sie nicht bereits wieder arbeiten müssen) und Touristen (sofern nicht bereits wieder abgereist). Unterwegs passieren wir frisch geschlüpfte Wasserverkäufer.

Auch Metropolen haben Idyllen, meistens jedoch private. Hier ein Balkonidyll irgendwo im Marais (Bild: Liesel Hahn)Wir treffen uns ein letztes Mal mit Sylvie, die heute frei hat, lassen uns weitere interessante Eckchen und Lädchen zeigen, stellen uns in einem kleinen chinesischen Takeway (wo nach Gramm bezahlt wird) ein Probierpicknick zusammen, mit dem wir uns in einen der belebten Parks verziehen, sonnen uns ein Stündchen und ziehen weiter. Wir haken noch einige der bislang nur vorgehabten Kleinbesuche ab, u.a. einen bestimmten schönen Innenhof bei der Sorbonne und das berühmte Café Deux Magots, bevor wir uns von unserer Freundin verabschieden, die in der Nähe noch einen Termin hat. Dann ziehen wir allein noch ein bisschen durch das schöne Wetter, bevor uns Füße und Mägen allmählich hotelwärts ziehen.

VIII.
Mittwoch: Heim zum Kater

Am späten Vormittag bringt uns erst die Metro zum Gare de l’Est, dann eine Abfolge von ICEs wieder nach Mainz, und mein Auto von dort aus wieder heim. Der Kater ist froh, dass die Koffer seine Leute wieder hergegeben haben und bald auf dem Dachboden verschwinden werden, Zuvor lungern sie noch einen Tag im Stadium der Ausweidung unten herum. Der Garten grüßt mit frischem Gelb und ersten Spuren erfolgreich wachsen wollenden Salats. Wie üblich kann ein Großteil der angesammelten Post als unwichtige Werbung ungesehen entsorgt werden. Ein, zwei in Paris gekaufte Dinge finden ihren Platz, zwei morgens noch in Paris gekaufte Croissants (leicht zerdrückt) werden zum ersten heimischen Kaffee verspeist. Fotos werden überspielt, der AB abgehört, die Mamas angerufen, eine Waschmaschine wird angeworfen, ein Reisebericht begonnen. Paris? Nett, dass es eins gibt. Nett auch, dass wir da waren. Leben möchten wir dort nicht, aber vielleicht fahren wir mal wieder hin. Zu sehen gibt es noch genug.

Ach ja: die Paradoxieregeln des Lebens (hier bzgl. des Zusammenhangs von warmer Kleidung und warmem Wetter) stimmen wohl doch, man muss nur lange genug warten.

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