Hendrik ist ganz angetan von Der seltsame Fall des Benjamin Button
„Spürst du, dass mein Herz langsamer schlägt als die Uhr? Ich mag nicht, dass deine Uhr schneller läuft und mich besiegt. Und wenn sie’s tut – was wird das zu bedeuten haben? In meinem Schlafzimmer war eine Uhr. Sie hat die ganze Nacht lang von der Zeit geschwatzt. Warum muss ich denn etwas von eurer Zeit erfahren, wenn ich im Bett liege?“
Nein, das ist kein Zitat aus dem Film <Der seltsame Fall des Benjamin Button>, der damit beginnt, dass eine Bahnhofsuhr rückwärts läuft und ein alter Mann geboren wird. Es ist ein Absatz aus einem Buch, das ich gerade lese – ein bereits 1955 verfasster phantastischer Roman namens <Land ohne Zeit> von einem mir ansonsten völlig unbekannten Vaughan Wilkins. Es hätte aber fast genauso gut eine Dialogpassage aus dem neuen Film sein können, denn dieser atmet genau die gleiche märchenhaft erzählte philosophische Sicht auf das uns Allgegenwärtige, das auch diesem weitgehend vergessenen Schmöker eignet.
In beiden geht es um die Idee, aus der uns vertrauten und scheinbar unentrinnbaren Linearität der verstreichenden Zeit heraustreten und dadurch eine neue Sicht auf das Leben gewinnen zu können. Während in dem Roman dieses Heraustreten durch die Reise zu einer sagenhaften, durch Zeit und Raum treibenden Insel geschehen kann, ist es im Film das Lebenslos eines in der Nacht des Endes des 1. Weltkrieges in New Orleans geborenen Mannes, dessen Lebenszeit rückwärts verläuft: als winziger Greis geboren und nach dem Tod der Mutter im Kindbett vom verzweifelten Vater als monströse Missgeburt auf den Stufen eines fremden Hauses ausgesetzt, wächst Benjamin als Adoptivsohn der Hauswirtschafterin eines Altenheimes auf. Zunächst nimmt er in dieser Umgebung gar nicht wahr, dass er anders ist – ein Greis unter anderen –, bis nach und nach klar wird, dass sein Körper zunehmend an Lebensjahren verliert: er wird größer, kräftiger, lernt sich mit anderen vergleichen und lernt, das Wunder seines besonderen Schicksals zu begreifen. Als alter Mann hat er ein kleines Mädchen namens Daisy kennengelernt und sich mit ihm angefreundet, und diese Verbindung wird ein Leben lang bestehen: der Greis wird ein ältlicher Mann und geht zur See, das Mädchen wird eine junge Tänzerin in New York. Sie nähern sich einander an, trennen sich wieder, begegnen sich erneut. Ist eine Liebe zwischen diesen beiden Menschen überhaupt möglich? Und zuletzt findet sich eine Mitteo, eine Antwort: für eine Zeit, wie allen Lieben nur für eine Zeit Bestand gewährt wird, weil jedes Leben irgendwann sein Ende finden muss.
Diese auf einer 1921 verfassten Kurzgeschichte von F. Scott Fitzgerald basierende Idee war in Hollywood offenbar schon lange geplant, und es war wohl nur eine Frage des Zusammentreffens der richtigen Leute und technischen Möglichkeiten, wann dieses amerikanische Märchen den Weg auf die Leinwand finden würde. Ich habe einen etwas längeren Anlauf benötigt, um die Cinemascope-Dimensionen, die sich die Amerikaner für ihre Märchenerzählungen tendenziell gerne suchen, akzeptieren zu können. Hier habe ich empfunden, dass sie diese Kunst auch wirklich beherrschen: die schlichten, großen Gedanken des Lebens eben in weitausholenden Dolby Surround-Metaphern zu erzählen, statt die oftmals elegantere, zuweilen aber auch etwas verkniffen geratende pars pro toto-Variante zu wählen, wie sie (wenn ich mal etwas pauschalisieren darf) vermeintlich intellektuelleres Kino oft bevorzugt.
<Forrest Gump> war eine Form eines amerikanischen Breitwandmärchens, <Big Fish> eine andere. <Der seltsame Fall des Benjamin Button> liegt für mich irgendwo zwischen den beiden, ist insgesamt zurückhaltender und dadurch letztendlich ausgewogener. Das liegt u.a. an der insgesamt überzeugenden Darstellung sowohl Cate Blanchetts als auch Brad Pitts – Letzterer bietet hier zwar auch wieder nicht viel mehr Gesichtsausdrücke an als der durchschnittliche Keanu Reeves (also zwischen zwei und drei), aber das ist auch weder nötig noch wäre es passend, denn der eigentliche Focus der Geschichte ist, zur erholsamen Abwechslung inmitten des ganzen Star-ohne-Story-Kinos, die Geschichte selbst. Es ist Regisseur David Fincher anzurechnen, dass er seine Produktion mit all ihren aufwendigen Zutaten diesen Focus nicht verlieren lässt und offenbar seine Stars vom doppelt magischen Zauber der Unaufdringlichkeit zu überzeugen vermochte.
<Der seltsame Fall des Benjamin Button> ist auch insofern ein Märchen, als es dem Betrachter überlassen wird, ob er die Angebote, die der Film ihm für ein gedankliches Weiterspinnen macht, nutzen möchte oder nicht. Die Rahmengeschichte der sterbenden alten Frau, die ihre Tochter bittet, ihr aus Benjamins Tagebuch vorzulesen (und natürlich handelt es sich bei der alten Frau um Daisy), ist da vielleicht als ein Bindeglied zu sehen: sie nimmt unseren Unglauben vorweg, macht sich selbst zum Kommentator der Erinnerungen Benjamins und ist doch zugleich der Puffer, der uns in die Geschichte hineinträgt. Das hat auch schon bei <Grüne Tomaten> und <Big Fish>, die mit ähnlichen Rahmengeschichten arbeiten, wunderbar funktioniert. Diese Rückblenden sind das filmische Äquivalent zu der Formel „Es war einmal…“, die einen darauf vorbereitet, dass ab jetzt alles möglich wird, und dumm ist derjenige, der sich der Geschichte nicht anvertraut und die Erfahrung verpasst.
Mir fiel beim Miterleben des Lebensweges der Figur des Benjamin jenes Zitat des Ethnologen Clifford Geertz ein, dass sinngemäß lautet, vielleicht sei es dies, was uns Menschen erst zu Menschen mache: dass wir alle mit der Möglichkeit geboren würden, tausend verschiedene Leben zu leben, um zuletzt dann eines davon gelebt zu haben. Und möglicherweise findet dieser Gedanke eine Bestätigung in dem Umstand, dass wir uns in Büchern und Filmen so gerne dem Miterleben der Lebenswege besonderer Charaktere hingeben: damit wir uns daran erinnern, dass auch unser Leben eine Geschichte ist, deren Fortgang wir selbst zu gestalten vermögen.
<Der seltsame Fall des Benjamin Button> ist ein Filmmärchen, dem ich mich – trotz leichter Abneigung gegen seinen männlichen Hauptdarsteller – gerne anvertraut habe. Es besitzt die richtige Mischung aus lebensnaher Melancholie, souveränem Humor und verdaulich portionierter Weisheit. Wer die eine phantastische Prämisse des Films akzeptiert, bekommt zur Belohnung eine sanft fesselnde, mit behutsamer tänzerischer Eleganz inszenierte Geschichte erzählt. Dieser fehlt die emotionale Intensität, die z.B. der für einen Vergleich naheliegende neueste Film von Pitt-Gattin Jolie <Der fremde Sohn> von Regielegende Clint Eastwood aufweist. Ihm fehlt auch weitgehend die schmerzhafte Unentrinnbarkeit, welche ein konsequenteres Hineindenken in die Grundidee mit sich gebracht hätte (wer will, mag zum Vergleich <Eine Spiegelgeschichte> von Ilse Aichinger lesen, die auf der gleichen Idee basiert, und die ich zu den kompromisslosesten Wort- und Herzgespinsten deutscher Zunge zähle). Und trotzdem ist es, ohne weiteres Wenn und Aber, ein rundum gelungener Film. Und darauf kommt es mir schließlich an, wenn ich ins Kino gehe.
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Kritikenübersicht, Batzman empfiehlt stattdessen „About Schmidt“, Symparakronemoi entdeckt Kinomagie, wenn auch überladen, Marcus findet, dass der Film optisch „mächtig einen auf dicke Hose macht“, der Abspannsitzenbleiber ist in seinem Verriss sehr milde und Psycho-Rajko ist verschnupft:
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