Götz Kohlmann entführt uns in die Welt des Schriftstellers César Aira – in einem Interview und fünf Beiträgen. Erster Teil: Gedanken zur Novelle. Immer sonntags – nur bei SchönerDenken.
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Der Schriftsteller, der hier vorgestellt werden soll, hat den Begriff der „schlechten Literatur“, der literatura mala, zu seinem Leitstern erkoren. Dennoch zählt er zu den wichtigsten Autoren Südamerikas und gilt als Nobelpreiskandidat. Das ist ihm wiederum egal, denn es heißt, dass er nicht nach Ruhm strebt und den öffentlichen Auftritt scheut.
Seit langem habe ich kein Buch eines mir bisher unbekannten Autors mehr gelesen, das in mir die Absicht hinterließ, ich müsse nun so gut wie alles von diesem Schriftsteller kennen lernen. César Aira wurde 1949 in der Provinz Buenos Aires geboren und trat in seinen Dreißigern als Autor hervor, nachdem er bis dahin als Übersetzer gearbeitet hatte, unter anderem von Werken Kafkas und Stephen Kings, was durchaus Rückschlüsse auf sein eigenes Schreiben zulässt, das gedankentiefe, wie im Traum gesponnene Geschichten mit manchmal greller Unterhaltsamkeit und Spannung zu verbinden weiß. Schon mehrfach wurde die Suchtqualität von Airas Werk von prominenter Seite, etwa von Roberto Bolano, hervorgehoben.
Zweiter Band aus der Serie „Tausendundein Buch“.
Im Rahmen der Berichte zur Frankfurter Buchmesse 2010 begegnete mir Airas Name erstmals. Mich sprach der Titel „Humboldts Schatten“ an und ich besorgte mir die etwa 90 Seiten umfassende Novelle, die im Original unter dem Titel „Un episodio en la vida del pintor viajero“ (also wörtlich „Eine Episode aus dem Leben eines Reisemalers“) im Jahr 2000 erschienen war. Ihr Held ist der 1802 in Augsburg geborene Johann Moritz Rugendas, eine historische Persönlichkeit.
Rugendas stammte aus einer Künstlerfamilie, die seit mehreren Generationen angesehene Genremaler hervorgebracht hatte. Jahrelang bereiste er Südamerika, dessen Landschaften, Menschen, Tiere, Pflanzen und Sitten er inspiriert von der wissenschaftlichen Methode Alexander von Humboldts in tausenden von Arbeiten festhielt. Umgekehrt bewunderte Humboldt auch Rugendas, den er als „Schöpfer und Vater der Kunst der malerischen Darstellung der Physiognomie der Natur“ bezeichnete, wie es in Airas Novelle heißt. Nach Humboldts Ansicht sollte der Kunstgeograph, als den er Rugendas sah, also das Gesicht einer Landschaft darstellen. Der Begriff des Gesichts ist ein Leitmotiv der Novelle, in deren Verlauf Rugendas sein äußeres Gesicht verliert, um zugleich ein inneres „Gesicht“ zu gewinnen.
Die Prosaform der Novelle hat in den vergangenen Jahren ein Revival erlebt. Lange galt sie wohl als antiquiert, als klassische Gattung des 19. Jahrhunderts mit einigen Ausläufern im 20. Jahrhundert. Nach dem 2. Weltkrieg lief ihr die in der amerikanischen Literatur hervorgebrachte Kurzgeschichte den Rang ab, von der sie sich eindeutig abgrenzen lässt, wie auch von der Erzählung, der sie die artistische Konsequenz voraushat. Und manchmal wurden auch noch Novellen geschrieben, ohne dass ihre Autoren sie offiziell so bezeichnen wollten. Nach all den formalen Wagnissen, die das Erzählen in den vergangenen hundert Jahren eingegangen war, kann es sein, dass einige Schriftsteller sich nach einer Übung in Klarheit und Strenge sehnten. Zugleich stellt die Wahl der Gattung Novelle per se einen Kommentar zu unserer immer weiter zerfasernden, immer komplexeren und tatsächlich verrückten Wirklichkeit dar.
Wer eine Novelle schreibt, setzt also unabhängig von ihrem Inhalt immer schon ein Zeichen. Er will mittels eines Textes, der ganz und gar, in jedem Satz von Formwillen geprägt ist, Unwesentliches ausschließt und sich keine Nachlässigkeiten erlaubt, das Individuum im Kampf mit seine Autonomie bedrängenden Mächten zeigen und lässt es darin unterliegen oder triumphieren.
Es gab zuletzt Wochen, da musste man nur die Literaturseiten gleich welcher Zeitung aufschlagen, um auf den Begriff „Novelle“ zu stoßen; er scheint also in der Luft zu liegen. Und da findet sich dann in den Rezensionen auch der Hinweis, der Novelle hafte etwas „Vormodernes“ an und sie sei nicht von ungefähr aus der Mode gekommen. Doch nun scheinen sich viele Autoren wieder an dieser literarischen Edeldisziplin messen zu wollen.
In einer geglückten Novelle finden realistische und märchenhafte, surrealistische Elemente zu einer idealen Symbiose zusammen. Die Erzählung komprimiert den Inhalt eines Romans, die Novelle komprimiert den epischen Atem des Romans. Die Novelle verschafft dem Leser auch eine gewisse Art der Geborgenheit, einer Geborgenheit in der Sprache und in einer poetischen Wirklichkeit, die oft eine stärkere Wirkung als in Romanen entfaltet. Dieser Wirklichkeit sind durchaus immer ein romantischer Gestus und ein Zug ins Transzendente zueigen. Novelle: was für ein schönes luftiges, lichtes Wort. Blättert man noch einmal in einem alten Standardwerk der Germanistik, Benno von Wieses Abhandlung, dann ist man überrascht, wie viele der dort genannten Kriterien auf Airas Buch zutreffen. Charakteristisch für die Novelle, schreibt Wiese, ist der grundsätzliche Vorrang des Ereignisses vor den Personen und den Dingen. Die Novelle schildert etwas „Neues“, noch nie Gehörtes mit Ironie und Distanz zum Stoff.
Entscheidend ist die Form, das Wie des Erzählens. „Die Novelle ist eine Geschichte außer der Geschichte“, zitiert Wiese aus August Wilhelm Schlegels „Vorlesungen über Schöne Litteratur und Kunst“. Die Novelle liebe das Zufällige, die Launen des Schicksals, die Paradoxien der Erfahrung, so Wiese. Sie stelle eine bestimmte Krise in einem Menschenleben spannungsvoll dar. Sie sei ein Kompromiss zwischen dem Tragischen und dem Komischen und ihre Handlung tendiere zum Sinnbildlichen.
Am kommenden Sonntag geht es im nächsten Beitrag um „Humboldts Schatten“.
Der Podcast wurde gesprochen von der Schauspielerin Petra Steck.
Autor: Götz Kohlmann/SchönerDenken