César Aira im Interview: 6. „Eine erschöpfte Gattung“

Zum Abschluss der Serie führt Götz Kohlmann ein Interview mit dem Schriftsteller César Aira.

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SchönerDenken: „Die nächtliche Erleuchtung des Staatsdieners Varamo“ und „Humboldts Schatten“ sind wie Novellen. Sie erinnern an Werke des 19. Jahrhunderts. Die Novelle gilt als eine etwas altmodische, aber auch sehr anspruchsvolle Literaturgattung. Was reizt Sie an klassischen Formen des Schreibens wie der Novelle oder dem Roman?

César Aira: Ich habe keinen Gefallen daran. Genau genommen, stößt es mich mehr und mehr ab, und im Schreiben von Romanen vermag ich in unserer Zeit keinen Sinn mehr zu sehen. Der Roman stellt eine veraltete, erschöpfte Gattung dar. Sie hatte ihren Höhepunkt und ihre Vollendung im 19. Jahrhundert und was davon geblieben ist, ist lediglich kommerziell: Ich habe niemals das Gefühl gehabt, Romane zu schreiben. Die „Romane“, die ich geschrieben habe, sind eher Pasticcios von Romanen, Scheinromane. Ich suche die Kürze und Dichte der Poesie, die Unmittelbarkeit des Entwurfs.

SD: Der formalen Disziplin in den Erzählungen stehen exzentrische Experimente in Ihren Romanen gegenüber, etwa in „Die Nächte von Flores“. Sie verfolgen – so ist es zumindest zu lesen – die Idee einer „literatura mala“. Würden Sie uns diesen Begriff ein wenig erläutern?

César Aira: Ich entsinne mich nicht, jemals eine „literatura mala“ ernsthaft gerechtfertigt zu haben. Wenn ich es aber tat, dann handelte es sich um eine Provokation, mit dem Ziel, auf die Stagnation und den Konformismus der Kriterien aufmerksam zu machen, mit denen Rezensionen wirken. Wenn man heutzutage Geschriebenes als „Gut“ qualifizieren kann, dann deswegen, weil es den alten Mustern für Qualität entspricht. Die Literatur sollte es sich zur Aufgabe machen (ich habe mir das selbst vorgeschlagen), neue Paradigmen zu schaffen, nicht aber an den etablierten festzuhalten.

SD: Haben Sie ein durchgearbeitetes Konzept, bevor Sie einen Roman oder eine Erzählung beginnen oder lassen Sie sich von der Geschichte während des Schreibens treiben und überraschen?

Ich brauche für den Anfang eine anregende und vielversprechende Idee, aber eine, die nichts Bestimmtes ankündigt oder verspricht und mir erlaubt, ihr über die gesamte Länge des Schreibprozesses etwas erfindend zu folgen. Eine vorher ausgedachte Handlung zu verfassen, gleicht allzu sehr einem bürokratischen Alptraum.

SD: Von welchen Autoren glauben Sie beeinflusst zu sein?

Niemals habe ich mich Einflüssen verweigert, noch habe ich diese gefürchtet. Ich bin sehr beeinflussbar. Ich glaube, dass es das Geheimnis der Originalität ist, für sämtliche Einflüsse offen zu sein. Vor allem wenn sie gegensätzlichen Quellen entstammen. In meinem Fall Borges und der Surrealismus (und im Umkreis des Surrealismus schließe ich Lautréamont und Raymond Roussel ein). Es ist aber müßig Namen zu nennen: seit fünfzig Jahren lasse ich mich jede Woche von einem anderen Autoren beeinflussen.

SD: Zum Schluss eine Frage an den Kinogeher Aira: Würden Sie uns einige Ihrer Lieblingsfilme nennen – einen, der vor 1940 gedreht wurde, einen der vor 1970 gedreht wurde, einen, der vor 1990 gedreht wurde und einen aus den vergangenen drei Jahren?

Ich habe hunderte von Lieblingsfilmen. Von ihnen will ich einige nennen, die mir gerade in den Sinn kommen, auch wenn die Daten wohl nicht ganz mit Ihrer Frage übereinstimmen: „SUNRISE“, von Murnau (1927); „THE WRONG MAN“ (1956) und „NORTH BY NORTHWEST“ (1959) von Hitchcock (von Hitchcock müsste ich aber zehn weitere nennen); „KISS ME DEADLY“ von Aldrich (1955); „NOUVELLE VAGUE“ von Godard (1990); „COWARDS BEND THE KNEE“ von Guy Maddin (2003); „MILLION DOLLAR BABY“ von Clint Eastwood (2004); „MORRER COMO UM HOMEM“ von Joao Pedro Rodrigues (2009).

SD: Vielen Dank!

Hier alle Beiträge der César-Aira-Reihe.

Der Podcast wurde gesprochen von der Schauspielerin Petra Steck und Thomas Laufersweiler
Autor: Götz Kohlmann/SchönerDenken

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