Ein Punkt, der alle Punkte in sich birgt

Jorge Luis Borges und die Essenz ungeschriebener Romane
Dritter Teil
von Götz Kohlmann

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Götz liest BorgesPodcast 33
Götz Kohlmann nähert sich dem Meister der konzentrierten Form – im dritten von vier Teilen ist er dem geheimisvollen „Aleph“ auf der Spur.

„An jenem strahlenden Februarmorgen, als Beatriz Viterbo starb, nach einem herrscherlichen Todeskampf, der sich keinen Augenblick zu Sentimentalität oder Furcht hinabließ …“

So beginnt „Das Aleph“. Der Vetter jener Beatriz Viterbo, in die der Erzähler verliebt war, schreibt an einem Versepos, das die Erde in ihrer Gesamtheit darstellen soll, an einer kompletten Schilderung des Planeten, die keinen Baum, kein Haus, keine noch so entlegene Insel vergisst. Der Erzähler mit Namen Borges ist zunehmend genervt von der dreisten, geschwätzigen Eitelkeit des Möchtegern-Dichters und sein Verdruss mündet in die sarkastische Feststellung:

„Ich begriff, dass die Arbeit des Dichters nicht im Dichten bestand, sondern im Erfinden von Gründen, die Dichtung herrlich zu finden …“.

Nur die Erinnerung an die unerfüllte Liebe zu Beatriz, die er von ferne anbetete, treibt „Borges“ noch zu den zweifelhaften Treffen mit seinem Bekannten. Zunächst bewegt sich die Erzählung recht unspektakulär und unterhaltsam dahin, getragen von ihrem pathetischen Auftaktsatz. Etwa in der Mitte und wie selbstverständlich schlägt sie um ins Phantastische. Borges verfügt wie Kafka über die Qualität, das Ungeheuerlichste ganz lakonisch vorzutragen. Daneri, der Vetter von Beatriz, offenbart dem Erzähler am Telefon, dass sich im Keller seines Elternhauses ein Aleph befindet, ein Punkt im Raum, der alle anderen Punkte in sich enthält und simultan sichtbar macht. Er habe es schon als Kind entdeckt. Nun drohe er es zu verlieren, da das Haus abgerissen werden solle.

„Borges“ will das Aleph sehen und trifft bald darauf ein. Er wird unter „lächerlichsten Anweisungen“ in den Keller expediert und dort allein gelassen. „Nun komme ich zu dem unsagbaren Mittelpunkt meines Berichts“, heißt es dann. Es folgt ein rhetorischer Kunstgriff. „Borges“ äußert die Skepsis, ob er das Aleph überhaupt darzustellen vermöge. Er stapelt tief, um dann umso höher zu springen. Um die mystische Erfahrung wiederzugeben, wählt er die Form der scheinbar willkürlichen Aufzählung, sein bewährtes Mittel, um sich dem Unfassbaren sprachlich anzunähern. Diese Aufzählung teils banaler Dinge gipfelt in der Schau des gesamten Universums. Bittere Ironie: das Aleph offenbart ihm auch, dass seine geliebte Beatriz ein Verhältnis mit dem Fatzke Daneri hatte.

Vor allem anderen ist „Das Aleph“ die Geschichte einer unglücklichen Liebe. In einer Art Epilog äußert der Erzähler die Vermutung, dass das Aleph ein falsches Aleph war (eine Wendung, die vermutlich auch dadurch begründet ist, dass der Erzähler das „reine“ Bild seiner Geliebten bewahren möchte). Er erläutert seine Zweifel mit einer für Borges typischen fingierten bibliographischen Archäologie: ein geheimnisvolles Manuskript wird entdeckt und allerlei Wissen fiktiver und realer Autoren über das Aleph wird referiert.

Im vierten und letzten Teil wird sich Götz dem „Kriminalschriftsteller Borges“ widmen.
Sprecherin: Petra Steck

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