Jorge Luis Borges und die Essenz ungeschriebener Romane
Erster Teil
von Götz Kohlmann
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Podcast 29
Unter den großen Erzählern des 20. Jahrhunderts ist Jorge Luis Borges der einzige, der nie einen Roman geschrieben hat. Man hat ihn oft, manche verhehlten ihr Bedauern kaum, nach den Gründen seiner Zurückhaltung gefragt, und gute Freunde haben ihn vielleicht sogar ermuntert, es doch einmal mit einem Roman zu versuchen. Götz Kohlmann nähert sich dem Meister der konzentrierten Form – im ersten von vier Teilen ist er der autobiographischen Dimension auf der Spur.
Seine erste Antwort lautete, er habe zu wenige Romane gelesen, um einen schreiben zu können, er kenne wohl „Huckleberry Finn“ und „Don Quijote“, aber sonst … das war natürlich eine kokette Untertreibung, denn tatsächlich wird man wohl kaum einen beleseneren Menschen finden als Borges. Eine weitere Erklärung für seine „Scheu“ vor dem Roman kann man dem Vorwort seines ersten großen Erzählbandes „Fiktionen“ entnehmen – erschienen 1944.
Darin bezeichnet er es als einen „mühseligen und strapazierenden Unsinn, dicke Bücher zu verfassen“. Ein besseres Verfahren sei es, so zu tun, als gäbe es diese Bücher bereits, und ein Resümee, einen Kommentar vorzulegen. Also habe er „aus größerer Gewitztheit, größerer Unbegabtheit, größerer Faulheit das Schreiben von Anmerkungen zu imaginären Büchern“ vorgezogen. Borges nennt anschließend zwei der Erzählungen des Bandes als Beispiel für diese Methode, doch scheinen fast alle seine Erzählungen Exposés zu nicht geschriebenen Romanen zu sein.
Das erste Buch mit Texten von Borges habe ich mir allein deshalb gekauft, weil ich von seiner äußeren Erscheinung so fasziniert war. Es war im Sommer 1986, Borges war im Juni in Genf gestorben, und im Juli erschien eine Art „Best of Borges“ als Taschenbuch. Eine Fernsehdokumentation, vermutlich anlässlich seines Todes ausgestrahlt, zeigte Ausschnitte aus einem Interview mit dem schon sehr alten Dichter. Da saß er (wie ein Homer oder Teiresias der modernen Zeiten) in einem kargen Studio, etwas vorgeneigt, so dass sein gerader Rücken kaum die Stuhllehne berührte, beide Hände auf den Knauf eines edlen Grandseigneur-Stocks gestützt, den Kopf mit den blinden Augen leicht zur Seite geneigt, und gab – so jedenfalls meine Erinnerung – mit rauer, strenger Stimme Auskunft. Ohne eine Zeile von ihm zu kennen, war es für mich ganz fraglos, dass er als Schriftsteller eine absolute Autorität war.
In Borges Leben gibt es drei Konstanten: die Liebe zu den Büchern, die enge Bindung an seine Mutter (sie starb erst, als Borges selbst bereits 75 Jahre alt war) und der drohende und dann tatsächliche Verlust seines Augenlichts. Borges wurde 1899 in Buenos Aires geboren und verbrachte einen Teil seiner Jugend in Europa. Sein Vater war Rechtsanwalt, hatte literarische Neigungen und erblindete früh. In den zwanziger Jahren, nach der Rückkehr seiner Familie nach Argentinien, war Borges Mitarbeiter zahlreicher Literaturzeitschriften und veröffentlichte zunächst Lyrik und Essays.
Nach dem Tod seines Vaters, 1938, arbeitete er einige Jahre lang als Bibliothekar in einer Stadtbibliothek. Nach einer Stunde hatte er dort sein jeweiliges Tagespensum erfüllt und verzog sich in den Keller, um zu lesen und zu schreiben. In dieser Zeit, der Zeit des Zweiten Weltkriegs, entstanden die unverwechselbaren Erzählungen, die ihn in Lateinamerika berühmt machen sollten und den „Magischen Realismus“ begründeten, 1944 der Band „Fiktionen“ und 1949 „Das Aleph“. Seltsamerweise steht Borges, der wie gesagt nie einen Roman verfasste und die Epoche des Romans sogar für beendet hielt, am Anfang einer großen südamerikanischen Romantradition, die von Namen wie Garcia Marquez, Vargas Llosa und Julio Cortázar geprägt wurde.
Literatur kommt immer von Literatur, und insbesondere bei einem Bücherwurm wie Borges. Seine Erzählungen haben zahlreiche Vorbilder, die er auch immer wieder selbst genannt hat: Kipling, H.G. Wells, Kafka, Melville, Stevenson, u.v.a.; sich anzulehnen an die Großen der Vergangenheit war für ihn selbstverständlich, mit Eklektizismen spielte er ganz offen. Und doch ist sein Werk von seltener, großartiger Originalität. Seine Inspirationen beruhten vordergründig kaum auf Alltagserfahrungen, sondern meist auf dem, was er gelesen hatte, aber, was er las, das war für ihn alltägliche Erfahrung.
Wenn Autobiografisches eine Rolle spielt, dann in verschlüsselter, symbolischer Form. Borges begeisterte sich für metaphysische Spekulationen, für Philosophien und Mythologien, für Geheimlehren und für sämtliche Weltreligionen. Es gibt kaum einen besseren Führer durch das Labyrinth menschlicher Ideen und Imaginationen als ihn. Schon erblindet, wurde er Direktor der Nationalbibliothek Argentiniens und er soll manche Mitarbeiter in den Magazinen beschämt haben, die ihn für hilflos hielten, indem er Buch für Buch in den Regalen berührte und Titel und Verfasser nannte.
Die Auftakterzählung der Sammlung „Fiktionen“ verfügt über alle Elemente, die Borges Texte so faszinierend machen: Estela Canto, eine der Frauen, in die Borges unglücklich verliebt war, schreibt in ihrem Erinnerungsbuch „Borges im Gegenlicht“, Borges habe als Leser immer mehr für die Bravourstücke geschwärmt und nicht für Kontinuität, nicht für den langen Atem der Epik. Und so sind auch seine eigenen Erzählungen sämtlich Bravourstücke, sie drehen sich um geniale Grundeinfälle, sie sind, um mit Hitchcock zu sprechen, „ein Stück Kuchen“, kein „Stück Leben“.
Folgende Idee steht im Zentrum von „Tlön, Uqbar, Orbis Tertius“, der Erzählung, die den Reigen der „Fiktionen“ eröffnet: Eine Geheimgesellschaft erfindet zu Anfang des 17. Jahrhunderts ein Land, später einen ganzen Planeten und verfasst eine fiktive Enzyklopädie dieses illusorischen Planeten. Im 20. Jahrhundert stoßen zwei Freunde auf die Reste jener Enzyklopädie, die in Bruchstücken und Einzelausgaben noch durch Bibliotheken und Antiquariate geistert, nach und nach erkunden sie nun die Welt von Tlön, wo es zum Beispiel eine Sprache ohne Substantive gibt; und schließlich dringt gar jene phantastische, ausgedachte Welt in die reale ein. Wie so oft bei Borges kommt die Erzählung quasi-autobiografisch daher. Der Freund des Ich-Erzählers heißt Bioy Casares – auch im wirklichen Leben der Name von Borges bestem Schriftstellerfreund.
Die Verwendung der Ich-Perspektive ist bei Borges immer ein entscheidendes Stilmittel zur Beglaubigung des phantastischen Geschehens. Außerdem untermauert oft eine Flut von Orts- und Personennamen den scheinbaren Wahrheitsgehalt der Geschichten. Was wir jeweils vor uns haben, ist die Spitze eines schönen, schillernden Eisbergs, das größere Stück überlässt Borges der Imagination des Lesers, von dem er eine hohe Meinung hat. Er begreift den Leser als Mitautor des Werks. „Alle Menschen, die eine Zeile von Shakespeare wiederholen, sind William Shakespeare“ – so lautet eine der für Borges typischen Fußnoten in „Tlön, Uqbar, Orbis Tertius“. Trotz ihrer ungemeinen Komplexität und Dichte sind seine Erzählungen gut lesbar (denn das Vergnügen des Lesers lag ihm sehr am Herzen), und wegen ihrer Komplexität mag man sie wieder und wieder lesen.
Im zweiten Teil wird sich Götz der Lakonie des Ungeheuerlichen widmen.
Sprecherin: Petra Steck