WARUM DENKEN TRAURIG MACHT: Gedanken denken, die es wert sind, gedacht zu werden

Folge 721
PJ liest WARUM DENKEN TRAURIG MACHT – ZEHN (MÖGLICHE) GRÜNDE von George Steiner und macht sich seine Gedanken
Länge: 05:30


Achtung – mit George Steiner schreibt hier einer der letzten Universalgelehrten, der zuletzt in Oxford Komparatistik lehrte, aber weit und umfassend über die Grenzen seines Lehrgebietes hinaus blickt. Das verlangt einiges vom Leser, gibt ihm aber auch viel.

Immerhin geht es ums Denken, eine Tätigkeit, die wir wie das Atmen nicht einfach abstellen können – schon macht uns Steiner etwas klar, was wir vielleicht so deutlich noch gar nicht gesehen haben. Also Denken ist etwas stetiges und ständiges am und im Menschen; und das soll nun traurig machen? Die Tätigkeit und Fähigkeit, die nach landläufiger Ansicht den Menschen von allen anderen Lebewesen unterscheidet, sein Alleinstellungsmerkmal?!

Denken ist grenzenlos, nichts ist undenkbar, erläutert Steiner; das ist die positive Seite. Andererseits:

„Wir wissen nicht, ob das, was uns unbegrenzt erscheint, nicht in Wahrheit auf absurde Weise eng und unerheblich ist … Wie lang und für wie viele Millionen ist die Erde nicht flach gewesen? … An schlechthin entscheidenden Fronten gelangen wir nicht zu befriedigenden Antworten, … Lauschen Sie dem Strom der Gedanken, und Sie werden, in einem unversehrten Zentrum, Zweifel und Frustration vernehmen. Dies ist ein erster Grund für Schwermut, für die Schwere des Herzens.“

Der Begriff „Schwermut“ wurde von Steiner im englischen Originaltext so verwandt. Ein Hinweis auf seine deutschsprachige Herkunft: Seine Eltern waren jüdische Österreicher, die 1940 nach New York emigrierten. In seinem Text verwendet er mehrfach deutsche Begriffe wie „dunkler Grund“, „unzerstörliche Melancholie“ oder auch „Ursache“. Die weiteren neun Gründe, warum Denken traurig macht, führt er auf diesen dunklen Grund, diese Melancholie zurück, die wie ein kosmisches Grundrauschen den menschlichen Denkprozess untermalen. Aber – ohne Denken keine Persönlichkeit, keine Identität:

„Gedanken sind unser einziges gesichertes Gut. Sie machen unser Wesen aus, unser Zu-Hause-Sein oder aber unsere Entfremdung vom Selbst. … Daraus ergibt sich eine Konsequenz, deren Enormität – … – als selbstverständlich hingenommen wird. Keine noch so große Nähe … wird uns in die Lage versetzen, die Gedanken eines anderen zweifelsfrei zu entschlüsseln.“

Doch damit nicht genug; Steiner weist nun auf ein Paradox hin, das diese absolute Individualität massiv untergräbt. Denn gerade diese Gedanken, die uns einzigartig machen, sind menschliches Allgemeingut.

„Sie sind gedacht worden, werden jetzt gerade gedacht, werden millionen- und abermillionenmal von anderen gedacht werden. Sie sind unendlich banal und abgenutzt. Gebrauchte Güter. … Es sind Massenprodukte, etikettiert mit den endlos sich wiederholenden Allgemeinplätzen unserer Sprache, unserer Kultur, unserer Zeit und Umgebung. … Daraus folgt, daß wirkliche Originalität im Denken, daß das allererste Denken eines Gedanken äußerst selten sind.“

Das klingt nach einer philosophisch überspitzten Zumutung, aber haben wir nicht schon selbst „gedacht“, daß Originalität in unserer Gesellschaft nur äußerst selten zu beobachten ist? Steiners Folgerung ist ein weiterer Grund für die dem Denken „anklebende Traurigkeit“:

„Das Denken ist in höchstem Maße unser Eigentum; … Gleichzeitig ist es die gewöhnlichste, abgenutzteste, repetitivste aller Handlungen. Dieser Widerspruch läßt sich nicht auflösen.“

Keine 80 Seiten umfasst dieser Traktat über das menschliche Denken, da ich aber manche Passagen und ihre Denkprozesse mehrfach lesen mußte, kam er mir eher wie ein dicker Schmöker vor. Die Herleitung der zehn Gründe für die Traurigkeit durch Denken bewegt sich auf hohem abstraktem Niveau; das soll aber nicht abschrecken, es ist eben ein Büchlein zum Nach-Lesen und Nach-Denken. Auch sind die Begründungen Steiners durchaus Denkanstoß und eben nicht der Weisheit letzter Schluß – immerhin lautet der Untertitel „Zehn (mögliche) Gründe“. Übereinstimmen konnte ich mit seiner Feststellung

„Wir alle führen unser Leben inmitten einer unablässigen Flut, eines Magmas von Denkakten, doch nur ein Bruchteil der Gattung erbringt den Beweis, daß er zu denken weiß. … die Fähigkeit, Gedanken zu denken, die es wert sind, gedacht zu werden – ganz zu schweigen von jenen, die es wert sind, ausgesprochen und festgehalten zu werden – ist relativ selten“.

Dazu kann sich jeder seinen Teil denken.

Text und Podcast stehen unter der Creative Commons-Lizenz BY-NC-ND 4.0
Quelle: PJ Klein/SchönerDenken (Direkter Download der Episode über rechte Maustaste) 

George Steiner:
Warum Denken traurig macht. Zehn mögliche Gründe
Suhrkamp-Verlag
8,00 Euro, 124 Seiten
ISBN: 978-3-518-45981-2

Interview G. Steiner in Die Zeit

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