Ein Zwischendurchlob meiner verhexten Winterlektüre

[display_podcast]

Hendrik schmökert sich’s warm mit Andrzej Sapkowski

Später hieß es, der Mann sei aus dem Norden vom Seilertor her gekommen. Er ging zu Fuß und führte das aufgezäumte Pferd am Zügel. Es war spät am Nachmittag, und die Buden der Seiler und Riemenschneider waren schon geschlossen, die Gasse leer. Es war warm, der Mann aber hatte sich einen schwarzen Mantel über die Schultern geworfen. Er erregte Aufmerksamkeit.
Vor dem Gasthaus <Zum Alten Narakort> hielt er inne, blieb eine Weile stehen und lauschte dem Stimmengewirr. Wie um diese Zeit üblich, war das Gasthaus voller Leute.
Der Unbekannte ging nicht in den <Alten Narakort>. Er zog das Pferd weiter, die Gasse hinab. Dort befand sich eine andere, kleinere Schenke, sie hieß <Zum Fuchs>. Darin war es leer. Die Schenke hatte nicht den besten Ruf.
Der Wirt reckte den Kopf hinter einem Fass mit sauren Gurken hervor und musterte den Gast. Der Fremde, noch immer im Mantel, stand steif am Schanktisch, ohne eine Bewegung, und schwieg.
„Was soll’s sein?“
„Bier“, sagte der Unbekannte. Er hatte eine unangenehme Stimme.
Der Wirt wischte sich die Hände an der Leinenschürze ab und füllte einen abgenutzten Tonkrug.
Der Unbekannte war nicht alt, doch er hatte fast ganz weiße Haare. Unter dem Mantel trug er ein abgewetztes Lederwams, das am Hals und über den Achseln zugebunden war. Als er den Mantel auszog, bemerkten alle, dass er an einem über die Schulter laufenden Gurt ein Schwert trug. Daran war nichts Besonderes, in Wyzima ging fast jedermann bewaffnet, doch niemand trug das Schwert auf dem Rücken wie einen Bogen oder Köcher.
Der Unbekannte setzte sich nicht an den Tisch zu den wenigen Gästen, er blieb am Schanktisch stehen und betrachtete den Wirt durchdringend. Er griff nach dem Krug.
„Ich suche ein Nachtlager.“
„Nichts frei“, knurrte der Wirt, den Blick auf die Stiefel des Gastes gerichtet, die staubig und schmutzig waren.
„Versucht’s im <Alten Narakort>.“
„Mir wäre es hier lieber.“
„Nichts frei.“ Der Wirt hatte endlich den Akzent des Fremden erkannt. Es war ein Rivier.
„Ich bezahle“, sagte der Unbekannte leise, als sei er unsicher.
Und da begann die ganze hässliche Sache.

[So begegnet man Geralt von Riva erstmals – ein auf den ersten Blick etwas unbesonderer, aber zugleich durchaus neugierig machender Anfang…]

Völlig egal, womit ich geistig sonst noch unterwegs bin – mit meinen eigenen Texten, mit nebenher an einem Nachmittag eingeatmetenAndrzej Sapkowski Geralt Saga 2 ambitionierten Erzählungen, mit Filmen oder Hörbüchern: den Winter verbringe ich gerne mit einem richtig schönen langen (d.h. in der Regel: mehrbändigen) Schmöker, einem Science Fiction-Zyklus, einem gut recherchierten, stilistisch nicht zu verschwurbelten historischen Schinken oder auch mal einem altvertrauten oder neuen Fantasywerk. In solcherlei Epen lese ich dann alle zwei, drei Tage für ein bis drei Stündchen hinein, lasse mich von der Wucht einer breit angelegten Handlung und einem mitreißenden, eingängigen Erzählstil fesseln.

Fantasy war dabei in den letzten Jahren zunehmend selten vertreten, da ich mich an den doch zuweilen arg eingefahrenen Klischees der Sword & Sourcery gründlich leidgelesen hatte und selbst bei meinen Winterschmökern durchaus sehr verwöhnt bin, was Originalität betrifft; immerhin war vor Jahren mein Einstieg in die Post-Tolkien-Fantasy flankiert von zwei der bis heute besten Fantasyzyklen überhaupt – Ursula K. Le Guins magiephilosophischen Erdsee-Romanen und Fritz Leibers Lankhmar-Geschichten, und danach hat man einfach für den 25. Wir-machen-die-Heerscharen-des-Bösen-mit-dem-Schwert-der-Prophezeiung-platt-Aufguss keinen rechten Geschmack mehr.

In diesem Winter hatte ich Glück und richtete Ende November meinen Sucherblick gen Osten. Bei Tolkien kommt von Osten nur selten etwas Gutes, aber mir begegnete auf diesem Wege der polnische Autor Andrzej Sapkowski, der hierzulande immer noch ein wenig Geheimtipstatus innehat, derweil er in seiner Heimat längst kultische Verehrung unter den Freunden guten phantastischen Erzählens genießt.

Sapkowskis Erzählwerk umfasst zwei Hauptstränge. Da ist zum einen die im Osteuropa des 15. Jahrhunderts angesiedelte Narrenturm-Trilogie in drei dicken Bänden („Narrenturm“, „Gottesstreiter“ sowie „Lux perpetua“), die zu einem guten Drittel gut recherchierter historischer Roman, zu einem weiteren guten Drittel packender Abenteuerroman und zu einem etwas dünneren Restdrittel auch Fantasyroman ist, weil in die ansonsten offenbar recht authentisch unterfütterte Erzählung vom Leben des fahrenden Medicus Reinmar von Bielau in diesem Jahrhundert zuweilen auch phantastische Elemente eingebaut sind. Sapkowski geht es wohl eher darum, wie die Menschen der damaligen Zeit ihre Welt begriffen haben mögen und nicht darum, wie wir sie heute mit unserem naturwissenschaftlichen Denken umgrenzen, und da sitzt dann eben abends plötzlich auch mal ein Goblin am Lagerfeuer und niemand wundert sich groß darüber. Selbst habe ich die Narrenturm-Trilogie noch nicht gelesen, aber verschenkt habe ich sie schonmal an einen Mittelalterfan und habe in den folgenden Wochen so ausgesprochen lesegenussbekiffte Begeisterung geerntet, dass ich mir das Werk selbst auch nochmal zulegen werde.

Den anderen Hauptstrang von Sapkowskis Werk genieße ich selbst gerade, und das sind die Fantasy-Erzählungen rund um den Hexer Geralt von Riva und seinen zeitweiligen (und zuweilen unfreiwilligen) Abenteuerbegleiter, den Troubadour Rittersporn. Und wer seit Fritz Leibers Geniestreich der Erfindung seines berühmten ungleichen Heldenpaares (die Rede ist natürlich von Fafhrd und dem Grauen Mausling) auf ein auch nur im Ansatz vergleichbares Protagonistenduo gewartet hat, der kann jetzt und hier sagen: Endlich!

Insbesondere Geralt selbst ist ein faszinierend querer Held inmitten einer wiederum ungefähr mittelalterorientierten Welt voller kleiner, sich bekriegender Völker und Königreiche, die jedoch zugleich ein Panoptikum mythologischer Wesen und Ungeheuer darstellt. Die Zunft der Hexer stellt in dieser Welt eine ungeliebte Notwendigkeit dar, denn sie verweigern sich der Unterordnung unter die Herrscherhierarchien und leben konsequent gemäß eines völlig eigenen Ehren- und Verhaltenskodex. Dennoch braucht man sie, denn sie – d.h. die, welche die jahrzehntelange, mörderische Ausbildung überlebt haben – besitzen ungewöhnliche kämpferische, naturmagische und medizinische Kenntnisse, welche selbst die etablierteren Hofmagier und Stadtzauberer nicht aufzubieten vermögen.

Geralt von Riva ist ein unzugänglicher Einzelgänger, scheinbar alterslos (dabei sind Hexer lediglich sehr langlebig), als Schwertkämpfer eine Legende, als Mensch nur von wenigen geliebt und als Hexer fast überall gleichermaßen gefürchtet und verachtet. Er zieht meist einsam durch seine unruhige und oft brutale Welt und verdient sich seinen Lebensunterhalt mit dem Töten gefährlicher Ungeheuer gegen Entgelt. Doch wird er durch Zufall, seinen Hexerkodex oder zuweilen auch durch seine eigenen Gefühle (z.B. der Zauberin Yennefer gegenüber, der er lebenslang in Hassliebe verbunden ist) in verschiedenste Abenteuer hineingezogen. Scheinbar ist es ein Unding, dass ausgerechnet der um Schmeicheleien und Worte nie verlegene, stets auf der Suche nach der nächsten Liebschaft befindliche Troubadour Rittersporn sein bester Freund ist und ihn auf vielen dieser Abenteuer begleitet.

In Polen wurden einige der Geralt-Geschichten zwischenzeitlich verfilmt (eine deutsche Synchronisation scheint es nicht zu geben); mit Motiven der Geralt-Saga wurden außerdem offenbar diverse Rollen- und Computerspielszenarien entwickelt, was mir gut nachvollziehbar ist, ohne dass ich das Bedürfnis hätte, dem nachzuspüren, denn neben den dramaturgischen Zutat ist es vor allem Sapkowskis Stil, der mir gut gefällt.

Sapkowski erweist sich überhaupt – tatkräftig unterstützt von den offenbar recht guten deutschen Übersetzern – Seite um Seite als ein Meister des kurzweiligen Erzählens. Er holt den Lesenden da ab, wo dieser mit seinen (zumeist wohl nicht so sehr ausgefallenen…) Standarderwartungen an Fantasystandardlektüre steht, reichert die Ingredienzen der klassischen Fantasy um Elemente der osteuropäischen Mythologie, um herzhaften Humor, wunderbar kurzweilige Dialoge und originelle Handlungsumschwünge an. Er ist auf das Angenehmste ein unberechenbarer Erzähler, bei dem man nie weiß, ob man auf der nächsten Seite herzhaft lachen oder inmitten einer sich unvermittelt ins Lebensbedrohliche verkehrt habenden Situation mitfiebern wird – und es ist dies keine dieser sicheren Serienwelten, bei der man ganz genau weiß, dass ohnehin nur Statisten sterben. Umgekehrt fühl man sich darum auch von Geralts (seltenen) zufriedeneren und glücklicheren Momenten gemeinter als von jeder Ekstase Conans.

Kurz: Geralt der Hexer ist ein äußerst wärmender und kurzweiliger Lesegenuss in einem kalten Winter, und ich freue mich jetzt schon wieder auf nachher, wo ich endlich wieder teetrinkend und buchschlürfend nach Kaer Morhen, der halbverfallenen versteckten Heimstatt der Hexer aufbrechen darf.

Gegen Morgen, noch in der Dunkelheit, schlich sich ein hungriger und wütender Werwolf an das Lager heran, doch er bemerkte, dass das Rittersporn war, der da sang, also hörte er ein Weilchen zu und ging seiner Wege.
[Einer der schönsten Erzählungsschlussätze, die mir in der letzten Zeit begegnet sind.]

Die richtige Lesereihenfolge der deutschen Bände ist die folgende:
1. „Der letzte Wunsch“ (Erzählungen)
2. „Das Schwert der Vorsehung“ (Erzählungen)
3. „Das Erbe der Elfen“ (1. Roman der Geralt-Trilogie)
4. „Die Zeit der Verachtung“ (2. Roman)
5. „Feuertaufe“ (3. Roman)
6. „Der Schwalbenturm“ (i.Vb.)
Alle Bände sind bei dtv in recht ansprechender Paperbackform erschienen.

Schreibe einen Kommentar